Tiefe Wurzeln der Judenfeindschaft
Dabei reichen die antisemitischen Traditionen in Stuttgart und Württemberg wie in anderen Teilen Deutschlands weit zurück. Christliche Judenfeindschaft gab es schon im Mittelalter, die Ressentiments änderten sich auch in der Neuzeit nicht. Mit der Modernisierung im 19. Jahrhundert kam ein anti-emanzipatorisches Denken dazu, das sich gegen die zunehmende gesellschaftliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung richtete. Mit dem Antimodernismus, der die Umwälzungen der kapitalistischen Moderne kritisierte, kam ein antisemitischer Antikapitalismus auf, der sich ausschließlich gegen "jüdische Kapitalisten" richtete. Und der übersteigerte Nationalismus seit der Reichsgründung basierte stark auf Feindbildern wie dem als "undeutsch" betrachteten Juden.
Das alles waren keine württembergischen Besonderheiten. Im gesamten Deutschen Kaiserreich etwa etablierte sich der Nationalprotestantismus, eine politische Strömung, die sich gegen Demokratie, Liberalismus, Sozialismus und zugleich Kapitalismus richtete und dies alles mit einem scharfen Antisemitismus verknüpfte. Der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker wurde einer der Protagonisten dieser Bewegung, seine Schriften und Reden dienten als Katalysator für eine antisemitische Welle im Kaiserreich – aber erst ab Ende der 1870er.
Krawalle von unten, ohne ökonomische Ursachen
Bei den Stuttgarter Krawallen war ein Großteil sowohl der alten traditionellen als auch der neuen ideologischen Komponenten des Antisemitismus zu finden, wie Ulmer nachweist, er sieht "ein Bündel von Ursachen". Und das alles noch vor der Wirtschaftskrise des "Gründerkrachs", die oft als Beschleuniger antijüdischer Einstellungen im Kaiserreich gesehen wird. Eine wirtschaftliche Mangelsituation gab es aber im Stuttgart des März 1873 nicht, dies fällt als Ursache aus. Auch deshalb kritisiert Ulmer, dass "ein Teil der Antisemitismusforschung noch stark von politisch-ökonomischen Erklärungsmodellen beeinflusst" sei. Wie wenig aussagekräftig wirtschaftliche Faktoren allein sind, zeigen noch heute die konstant hohen Wahlergebnisse rechter Parteien in Teilen Baden-Württembergs.
In Stuttgart gab es 1873, noch lange vor dem organisierten Antisemitismus im Kaiserreich, einen dynamischen Antisemitismus von unten. Und dessen tiefe Verwurzelung wurde in breiten Schichten an mehreren Stellen deutlich. So hätte ohne das Stereotyp des jüdischen (Ritual-)Mords aus der traditionellen christlichen Judenfeindschaft das Mordgerücht nicht so eine Wirkung entfalten können. Die "Hep-Hep"-Rufe, Merkmale der antijüdischen Unruhen von 1819, beweisen zudem, dass "antisemitische Codes weit verbreitet waren, dass es ein kollektives Wissen darüber gab", sagt Ulmer – "jeder verstand sie". Dass das vermeintliche Mordopfer dann auch noch ein Soldat war, Repräsentant des im Kaiserreich hoch angesehenen Militärs, triggerte den antisemitischen Nationalismus. Und die gezielten Plünderungen am dritten Tag machten endgültig deutlich, "dass der Krawall nicht ein revolutionärer Aufstand gegen die Obrigkeit war", urteilt Ulmer. Stattdessen: "eine antisemitische, gewaltsame, anti-emanzipatorische Revolte gegen die exponierte bürgerliche Stellung der Stuttgarter Juden."
Der damaligen Obrigkeit war die Wirkung der Krawalle auf die öffentliche Ordnung offenbar genauso wenig geheuer wie die Benennung ihrer Ursachen. Die Justiz wurde unmittelbar danach tätig – und leistete ihren Teil zur Verdrängung. Zwar wurden verhaftete Steinewerfer und Aufrührer im Schnellverfahren zu teils hohen Strafen verurteilt. Aber als Strafgrund wurde stets nur Aufruhr gegen die staatliche Ordnung angegeben. Die antisemitische Motivation der Täter kam vor Gericht nicht zur Sprache.
Bis 1938 sollte es in Stuttgart keine so großen Ausschreitungen gegen Juden mehr geben – die Ursachen aber blieben. In seiner Studie hat Ulmer die württembergische Metropole mit anderen Großstädten des Deutschen Reichs verglichen und kommt zum Ergebnis, dass Stuttgart zwar keine extreme Hochburg der Judenfeinde war, dass der Antisemitismus hier aber doch "leicht überdurchschnittlich" war. "Der Antisemitismus war in der politischen Kultur in Stuttgart sehr verankert, das würde ich schon als These wagen", sagt der Historiker.
Info:
Am morgigen Donnerstag, dem 16. März 2023 sprechen Martin Ulmer und Michael Blume, Beauftragter der Landesregierung gegen Antisemitismus, im Stadtarchiv Stuttgart über "Das vergessene Pogrom – Die antisemitischen Krawalle in Stuttgart im Jahr 1873". Beginn ist um 19 Uhr.
Zum Weiterlesen: Martin Ulmer, "Antisemitismus in Stuttgart 1871 bis 1933. Studien zum öffentlichen Diskurs und Alltag", 2011 erschienen im Metropol-Verlag, 478 Seiten, 28 Euro.
1 Kommentar verfügbar
gerhard manthey
am 16.03.2023