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Erinnerung an NS-Opfer

Der Onkel aus der Résistance

Erinnerung an NS-Opfer: Der Onkel aus der Résistance
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Für Siegfried Fiskus wurde ein Stolperstein verlegt. Dass der gebürtige Stuttgarter, Sohn polnischer Juden, in Frankreich in der Résistance aktiv war, wusste bis vor Kurzem nicht einmal dessen Neffe. Über eine deutsch-französische Biografie-Rekonstruktion.

Das Haus Nummer 15 in der Weimarstraße im Stuttgarter Westen steht recht grau und schmucklos da, wirkt noch unspektakulärer durch den Kontrast mit der imposanten Robert-Mayer-Gewerbeschule, 1911 erbaut, schräg gegenüber. In diesem Haus lebte in der Zwischenkriegszeit die jüdische, aus Polen stammende Familie Fiskus. Die Eltern Leib und Feige Fiskus waren noch in Polen geboren, die Kinder Hella, Siegfried und Moritz alle in Stuttgart. Im Frühjahr 1933, nur kurz nach der Machtübernahme der Nazis, emigrierte die Familie nach Frankreich, alle überlebten den Krieg – alle bis auf Siegfried. Er wurde von den Nazis ermordet, noch nicht einmal 19 Jahre alt, am 22. Januar 1945 im KZ-Außenlager Hailfingen-Tailfingen in der Nähe von Herrenberg. Die letzten Etappen seines Lebens waren bis vor Kurzem unbekannt.

89 Jahre nach der Flucht aus Stuttgart steht Marc Genzel vor dem Haus in der Weimarstraße, der Sohn von Hella Fiskus. Er sei zum ersten Mal in Stuttgart, sagt er, und als er anfügt, er sei sehr bewegt, scheint ihm fast die Stimme wegzubrechen. Genzel, der als Allgemeinarzt im französischen Grenoble arbeitet, wirkt nicht wie ein Mensch, der gerne im Mittelpunkt steht. Ein unauffällig dunkel gekleideter Herr um die 70, Halbglatze, Brille, dahinter etwas melancholische und zugleich offene, neugierige Augen. Nun steht er hier und hält eine kurze Rede über seinen Onkel Siegfried, der am 6. Februar 1926 in Stuttgart geboren wurde, der hier bis zu seinem siebten Lebensjahr wohnte. Und für den heute ein Stolperstein verlegt wird.

Selten finden sich Angehörige

Es ist einer von insgesamt 14 Stolpersteinen, die der Künstler Gunter Demnig an diesem Freitag in unterschiedlichen Ecken Stuttgarts verlegt. Selten können Angehörige der Ermordeten ausfindig gemacht werden und sind bei den Verlegungen dabei. Heute ist dies nur hier und bei den Steinen für die Familie Olonetzky der Fall.

Um 13.15 Uhr haben sich rund 30 Leute für Siegfried Fiskus versammelt, darunter die französische Generalkonsulin Catherine Veber. Demnig kommt mit seinem Kleinbus an, geht mit dem Stein zur vorbereiteten Stelle auf dem Gehweg, holt aus dem Auto den Eimer mit dem Mörtel, füllt routiniert die Fugen, wischt den überschüssigen Mörtel weg, sagt die ganze Zeit kein Wort. Die Fotografen machen ein paar schnelle Bilder zusammen mit Genzel, dessen Frau Monique Slamce sowie Muriel Klein-Zolty, einer Freundin der beiden, dann rauscht Demnig nach etwa fünf Minuten wieder ab, zur nächsten Verlegung, die Zeit drängt. Die Angehörigen betrachten den Stein, lassen sich den knappen Text übersetzen, erst jetzt beginnt eine kleine Gedenkfeier.

Volker Mall und Harald Roth von der KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen übernehmen die Einleitung: Mall singt zur Gitarre das Résistance-Lied "Le Chant de Partisans", nach Roths Begrüßung beginnt Genzel mit seiner Rede, Pierre Caudrelier von der Deutsch-Französischen Gesellschaft übersetzt.

Nach ihrer Emigration aus Deutschland hätten Siegfrieds Eltern, seine Großeltern, zuerst in Belfort gelebt, erzählt Genzel, im Sommer 1940 aber, als die deutsche Wehrmacht Frankreich besetzte, seien sie ein weiteres Mal geflohen, nach Aurillac in der Auvergne, die zum unbesetzt gebliebenen Teil Frankreichs gehörte, dem mit Hitler kollaborierenden Vichy-Regime. Siegfried sei bis 1942 am Lycée Emile Duclaux in Aurillac zur Schule gegangen, er habe gute Noten in Französisch, Englisch und Geschichte gehabt, sagt Genzel. Als er ergänzt, "dagegen hatte er schlechte Noten in Mathematik", gibt es einige Lacher unter den Versammelten.

Ab dem Sommer 1942 wurde es auch hier gefährlicher, das Vichy-Regime begann auf Druck NS-Deutschlands mit der Registrierung ausländischer Juden. Siegfried nannte sich fortan Serge Foder, bekam falsche Papiere vom Direktor seines Gymnasiums, flüchtete über mehrere Stationen nach Montélimar am Rande der Provence. Dort arbeitete er als Aushilfslehrer an einer Militärschule, war aber zugleich in der Résistance aktiv, der französischen Widerstandsbewegung – sowohl in deren militärischen Arm FFI (Forces françaises de l'intérieur) als auch im MNCR (Mouvement nationale contre le racisme – Nationale Bewegung gegen den Rassismus), einer Organisation, die vor allem humanitäre Hilfe für Verfolgte und von der Deportation Bedrohte leistete. Wegen seiner Résistance-Tätigkeit, weil bei ihm versteckte Flugblätter gefunden wurden, wurde er im Juni 1944 in Montélimar verhaftet. Nach Stationen in Lyon und Drancy folgte schließlich Ende Juli 1944 die Deportation nach Auschwitz. Von dort kam er dann im Oktober 1944 ins KZ Stutthof bei Danzig und von dort wiederum im November nach Hailfingen-Tailfingen. Dort starb er am 22. Januar 1945.

In der Familie war der Widerstand ein Tabu

All dies sind Details, die Marc Genzel selbst lange nicht wusste, wie er nach der Gedenkfeier erzählt. Er wusste, dass sein Onkel in einem KZ gestorben war, aber nicht wo und wann. Und er wusste nicht einmal, das sein Onkel in der Résistance war. "Das war ein Tabu in der Familie", sagt Genzel. Das erstaunt – anders als bei Deutschen, die ihre Nazi-Vergangenheit verschweigen wollten, sollte es doch hier nichts zu verschweigen geben. Warum also ein Tabu?

"Weil der MNCR kommunistisch angehaucht war, von Kommunisten gegründet worden war", erklärt Genzel. Das gefiel seinen Großeltern, Siegfrieds Eltern, nicht, sie seien sehr religiös gewesen. "Sie haben ihrem Sohn vorgeworfen, dass er sich von der Religion entfernt habe. Er selbst wiederum hatte den jüdischen Religionsgemeinschaften vorgeworfen, dass sie nicht aktiv genug gegen die Nazis waren." Jedenfalls wussten die Eltern nicht einmal, dass Siegfried wegen seiner Widerstands-Aktivitäten festgenommen wurde.

Davon hat auch Marc Genzel erst vor einigen Jahren erfahren – durch Zufall: Er fand alte Notizhefte seiner Mutter, die selbst auch beim MNCR war und unter anderem Kurierdienste leistete, in denen sie vom Widerstand ihres Bruders schrieb. "Faszinierend" sei es gewesen, von den Widerstands-Aktivitäten seiner Mutter und seines Onkels zu erfahren, und auch, wie unterschiedlich diese waren. Genzel begann selbst zu recherchieren, was aus seinem Onkel geworden war, was die Stationen seiner letzten Monate waren. Weiter als bis zum "Konvoi 77", dem letzten Deportationszug aus Drancy Richtung Auschwitz, kam er nicht, obwohl sich seit Jahren ein länderübergreifendes Projekt gleichen Namens um die Erinnerung an die über 1.300 in diesem Zug Deportierten kümmert.

Den Häftlingen wieder Namen und Gesicht geben

Und hier kommen nun Volker Mall und Harald Roth ins Spiel. Vor rund 20 Jahren haben die beiden – inzwischen ehemaligen – Lehrer begonnen, die Geschichte des KZ Hailfingen-Tailfingen und seiner Insassen zu recherchieren. Erst konnten sie belegen, dass es sich hier tatsächlich um ein Konzentrationslager handelte, ein Außenlager des KZs Natzweiler-Struthof im Elsaß – lange war es "nur" für ein Arbeitslager gehalten worden. Sie recherchierten weiter zur Geschichte des Lagers, vor allem aber begannen sie, die Biografien der 600 hier gefangengehaltenen Juden zu rekonstruieren – um ihnen, so Malls und Roths Ziel, Namen, Gesicht, Identität zurückzugeben. Knapp 200 überlebten die drei Monate nicht, die das Lager bestand, noch einmal so viele starben bei den Gewaltmärschen, als sie verlegt wurden.

Zu den Früchten dieser komplett ehrenamtlichen Arbeit gehören mehrere Buchveröffentlichungen, vor allem aber die KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen, die 2010 als zweiteiliges Projekt eingeweiht wurde: Zum einen wurde auf dem ehemaligen Lagergelände ein Mahnmal aufgestellt, zum anderen im Tailfinger Rathaus ein multimediales Ausstellungs- und Dokumentationszentrum eingerichtet.

Namen, Daten und Porträts sämtlicher 600 Häftlinge wurden erstmals 2014 in einem dicken Band dokumentiert ("Die Häftlinge des KZ-Außenlagers Hailfingen-Tailfingen"), und weil immer wieder neue Informationen hinzukommen, gab es 2021 eine erweiterte und aktualisierte Auflage. Manchmal sind es nur wenige knappe Zeilen zu den Namen, aber oft förderten die Recherchen auch Quellen für mehrere Seiten lange Biografien inklusive Fotos zutage.

Erst 2018 wurde die Spur zu Fiskus entdeckt

Zu den erst spät rekonstruierten Biografien gehört dabei Siegfried Fiskus. 2018 stieß Mall auf ihn. "Ich hatte Kontakt mit der Organisation 'Convoi 77', die diesen Deportationszug untersucht", erzählt er. Mall wusste von Häftlingen aus diesem Zug, die von Auschwitz nach Hailfingen-Tailfingen gekommen waren, und schickte diese Informationen an die "Convoi-77"-Rechercheure. "Die haben mir dann gesagt, dass manche der Häftlinge Aliasnamen hatten", darunter eben Serge Foder, der eigentlich Siegfried Fiskus hieß. Über weitere Recherchen, unter anderem im Staatsarchiv Ludwigsburg, kamen weitere Informationen ans Licht, und so auch 2020 schließlich der Kontakt zu Marc Genzel aus Grenoble. Der habe bei der weiteren Komplettierung der Biografie sehr geholfen, sagt Mall, "seit er weiß, dass er einen Onkel in der Résistance hatte, recherchiert er wie ein Verrückter." 2021 hätte Genzel eigentlich schon zur KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen kommen sollen, Corona machte einen Strich durch die Rechnung, nun wird der Besuch einen Tag nach der Stolpersteinverlegung nachgeholt.

"Le travail de Volker Mall, c'est incroyable" – "die Arbeit von Volker Mall ist unglaublich", sagt Marc Genzel nach der Verlegung, da ist Mall aber schon längst außer Hörweite. Was war das für ein Moment, als er, der Neffe, von den Details zu den letzten Monaten seines Onkels erfuhr? Genzel ringt nach Worten. "Seit zwei Jahren wird ständig etwas Neues entdeckt", sagt er, und das nach Jahrzehnten, in denen er wegen des familiären Tabus kaum etwas über Siegfried Fiskus'/Serge Foders Schicksal wusste.

Marc Genzel wünscht sich, dass über das Schicksal seines Onkels ein Buch geschrieben wird. Und freut sich, dass schon jetzt versucht wird, die Geschichte unter junge Menschen zu bringen; Schüler des Gymnasiums in Aurillac, des Lycée Emile Duclaux, in dem sowohl er als auch sein Onkel zur Schule gingen, arbeiten daran, die Biografie von Serge Foder unter Betreuung eines Historikers zu vervollständigen. "Ziel ist, dass diese Schüler auch nach Hailfingen-Tailfingen fahren, zur Gedenkstätte", sagt Genzel. Um zu lernen, wozu Rassismus und Antisemitismus führen können. Um, ganz schlicht, aus der Geschichte zu lernen.


Info:

Zur Homepage der KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen geht's hier, zu der der Stuttgarter Stolperstein-Initiativen hier.

Harald Roth, Volker Mall, Johannes Kuhn: "Die Häftlinge des KZ-Außenlagers Hailfingen/Tailfingen", Gäufelden/Norderstedt (Book on Demand) 2021, 552 Seiten, 34 Euro, E-Book 2,99 Euro.


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