All dies sind Details, die Marc Genzel selbst lange nicht wusste, wie er nach der Gedenkfeier erzählt. Er wusste, dass sein Onkel in einem KZ gestorben war, aber nicht wo und wann. Und er wusste nicht einmal, das sein Onkel in der Résistance war. "Das war ein Tabu in der Familie", sagt Genzel. Das erstaunt – anders als bei Deutschen, die ihre Nazi-Vergangenheit verschweigen wollten, sollte es doch hier nichts zu verschweigen geben. Warum also ein Tabu?
"Weil der MNCR kommunistisch angehaucht war, von Kommunisten gegründet worden war", erklärt Genzel. Das gefiel seinen Großeltern, Siegfrieds Eltern, nicht, sie seien sehr religiös gewesen. "Sie haben ihrem Sohn vorgeworfen, dass er sich von der Religion entfernt habe. Er selbst wiederum hatte den jüdischen Religionsgemeinschaften vorgeworfen, dass sie nicht aktiv genug gegen die Nazis waren." Jedenfalls wussten die Eltern nicht einmal, dass Siegfried wegen seiner Widerstands-Aktivitäten festgenommen wurde.
Davon hat auch Marc Genzel erst vor einigen Jahren erfahren – durch Zufall: Er fand alte Notizhefte seiner Mutter, die selbst auch beim MNCR war und unter anderem Kurierdienste leistete, in denen sie vom Widerstand ihres Bruders schrieb. "Faszinierend" sei es gewesen, von den Widerstands-Aktivitäten seiner Mutter und seines Onkels zu erfahren, und auch, wie unterschiedlich diese waren. Genzel begann selbst zu recherchieren, was aus seinem Onkel geworden war, was die Stationen seiner letzten Monate waren. Weiter als bis zum "Konvoi 77", dem letzten Deportationszug aus Drancy Richtung Auschwitz, kam er nicht, obwohl sich seit Jahren ein länderübergreifendes Projekt gleichen Namens um die Erinnerung an die über 1.300 in diesem Zug Deportierten kümmert.
Den Häftlingen wieder Namen und Gesicht geben
Und hier kommen nun Volker Mall und Harald Roth ins Spiel. Vor rund 20 Jahren haben die beiden – inzwischen ehemaligen – Lehrer begonnen, die Geschichte des KZ Hailfingen-Tailfingen und seiner Insassen zu recherchieren. Erst konnten sie belegen, dass es sich hier tatsächlich um ein Konzentrationslager handelte, ein Außenlager des KZs Natzweiler-Struthof im Elsaß – lange war es "nur" für ein Arbeitslager gehalten worden. Sie recherchierten weiter zur Geschichte des Lagers, vor allem aber begannen sie, die Biografien der 600 hier gefangengehaltenen Juden zu rekonstruieren – um ihnen, so Malls und Roths Ziel, Namen, Gesicht, Identität zurückzugeben. Knapp 200 überlebten die drei Monate nicht, die das Lager bestand, noch einmal so viele starben bei den Gewaltmärschen, als sie verlegt wurden.
Zu den Früchten dieser komplett ehrenamtlichen Arbeit gehören mehrere Buchveröffentlichungen, vor allem aber die KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen, die 2010 als zweiteiliges Projekt eingeweiht wurde: Zum einen wurde auf dem ehemaligen Lagergelände ein Mahnmal aufgestellt, zum anderen im Tailfinger Rathaus ein multimediales Ausstellungs- und Dokumentationszentrum eingerichtet.
Namen, Daten und Porträts sämtlicher 600 Häftlinge wurden erstmals 2014 in einem dicken Band dokumentiert ("Die Häftlinge des KZ-Außenlagers Hailfingen-Tailfingen"), und weil immer wieder neue Informationen hinzukommen, gab es 2021 eine erweiterte und aktualisierte Auflage. Manchmal sind es nur wenige knappe Zeilen zu den Namen, aber oft förderten die Recherchen auch Quellen für mehrere Seiten lange Biografien inklusive Fotos zutage.
Erst 2018 wurde die Spur zu Fiskus entdeckt
Zu den erst spät rekonstruierten Biografien gehört dabei Siegfried Fiskus. 2018 stieß Mall auf ihn. "Ich hatte Kontakt mit der Organisation 'Convoi 77', die diesen Deportationszug untersucht", erzählt er. Mall wusste von Häftlingen aus diesem Zug, die von Auschwitz nach Hailfingen-Tailfingen gekommen waren, und schickte diese Informationen an die "Convoi-77"-Rechercheure. "Die haben mir dann gesagt, dass manche der Häftlinge Aliasnamen hatten", darunter eben Serge Foder, der eigentlich Siegfried Fiskus hieß. Über weitere Recherchen, unter anderem im Staatsarchiv Ludwigsburg, kamen weitere Informationen ans Licht, und so auch 2020 schließlich der Kontakt zu Marc Genzel aus Grenoble. Der habe bei der weiteren Komplettierung der Biografie sehr geholfen, sagt Mall, "seit er weiß, dass er einen Onkel in der Résistance hatte, recherchiert er wie ein Verrückter." 2021 hätte Genzel eigentlich schon zur KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen kommen sollen, Corona machte einen Strich durch die Rechnung, nun wird der Besuch einen Tag nach der Stolpersteinverlegung nachgeholt.
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