Ein eher unspektakulärer Fall, könnte man meinen, aber für die "Bild" ein gefundenes Fressen. Das Krawallblatt berichtete, der Polizeieinsatz zwecks des Rollers sei laut der Ulmer Staatsanwaltschaft rechtswidrig gewesen. Die Beamten sollen das Grundstück der Nachbarin nachts und ohne richterliche oder staatsanwaltliche Anordnung betreten haben. Außerdem behauptete die Nachbarin, sie selbst und nicht Cataltepe sei die wahre Eigentümerin des Kindergefährts.
In anderen Medien liest sich die Geschichte etwas anders. Oberstaatsanwalt Michael Bischofberger sagte den "Stuttgarter Zeitungsnachrichten" sinngemäß, die Polizei sei am Abend um 21 Uhr gekommen, nicht nachts, habe den Roller an die rechtmäßige Besitzerin (Cataltepe) zurückgegeben, fertig, alles in Ordnung.
Innenministerium muss sich mit dem Roller befassen
Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn Hans-Jürgen Goßner strickt längst an einer anderen Geschichte: Cataltepe habe ihre Position im Innenausschuss und die damit einhergehende Nähe zu Innenminister Thomas Strobl und den Sicherheitsorganen missbräuchlich dafür genutzt, die Polizei wegen dieses Rollers loszuschicken. Gemeinsam mit seinem Kollegen Daniel Lindenschmid formulierte Goßner im November 2021 eine Kleine Anfrage mit zehn Fragen an die Landesregierung. Frage 7: "Wie entwickelte sich der tatsächliche Verbleib des umstrittenen Tretrollers nach Ansicht der Landesregierung nach dem Polizeieinsatz am 22. Juni 2021?"
Das Innenministerium antwortet pflichtschuldig. Gegenüber der Polizei seien "divergierende Angaben zu den Besitzverhältnissen eines vor Ort auf der gut einsehbaren Terrasse von Frau M. befindlichen Tretrollers gemacht" worden. Was zur Folge hatte, dass ihn erst Frau Cataltepe zurückbekam, dann, nachdem die Staatsanwaltschaft ihren Senf dazu gegeben hatte, Frau M., die Nachbarin. Erkenntnisse, dass die Grüne Cataltepe irgendwen im Innenministerium oder anderswo kontaktiert habe, um einen Vorteil aus ihrem Amt zu ziehen, gebe es nicht.
So weit so gut. Goßner hatte zwischenzeitlich ein boulevardeskes Titelblatt für seine Homepage und Social Media gebastelt, das er Cataltepe und dem Kinderroller widmet. "Exklusiv" steht drüber, darunter ein Satz mit Tragweite: "Er war nur ein paar Euro wert und trotzdem beschäftigte sich eine Grüne und die Justiz damit." Und der AfD-Abgeordnete Goßner, der offenbar nichts Besseres zu tun hat, als mit der Geschichte eines billigen Kinderrollers den Landtag und das Innenministerium auf Trab zu halten.
Ende 2022 erreichte dann die Agentur-Meldung die deutsche Zeitungslandschaft, dass der Landesdatenschutzbeauftragte Goßners Kreisverband wegen des Fotos von Cataltepes Bauplatz abgemahnt habe. Cataltepe sagte ihrerseits der Deutschen Presse-Agentur: "Der AfD-Kreisverband Göppingen hat meine persönlichen Daten ins Internet gestellt." Das sei "absolut inakzeptabel", die AfD habe "hier klar die rote Linie überschritten". Der Post mit dem Bild ist inzwischen gelöscht, Goßner hat sich entschuldigt.
Sicherheitshalber will Cataltepe umziehen
Im Herbst besuchte die Grüne eine Erntedank-Veranstaltung unter anderem des Kreisbauernverbands Göppingen, mit deren Vorsitzender sich Cataltepe für Social-Media-Bilder ablichten ließ. 2021 hatten die Bauern ein Positionspapier veröffentlicht: Der fortschreitende Flächenverbrauch im Landkreis werde "mit großer Sorge" betrachtet. Die Bauern fordern Flächenkreislaufwirtschaft. Dass die Politik aktiv gegen Leerstand vorgeht, statt neu zu bauen. Parkhäuser statt Parkplätze. Geschosswohnen statt Einfamilienhäuser. "Gehen wir weise und respektvoll mit unseren Böden um – in Verantwortung für uns und unsere Nachkommen." Auf der Homepage der Landtagsgrünen, zu denen Cataltepe gehört, ist zu lesen: "Jeden Tag werden in Baden-Württemberg mehr als sechs Fußballfelder (Statistisches Landesamt: 2021/6,2 Hektar) an Fläche bebaut – das ist eindeutig zu viel!" Wie passt das zum Neubau auf der grünen Wiese?
Cataltepe sitzt in ihrem Büro, sie ist aufgewühlt. Man habe ihr geraten, ihr aktuelles Zuhause, eine Etagenwohnung, möglichst schnell zu verlassen. Sicherheitshalber. Andere Angebote auf dem Markt seien zu teuer/unmöglich gewesen.
Die Verfolgung habe bereits im Wahlkampf angefangen, berichtet sie. Ihre Werbeflyer seien zerrissen und im Hausflur ihres Mehrfamilienhauses verteilt worden. Von wem, ist nicht genau zu sagen. Auch seien fremde Männer im Treppenhaus aufgetaucht, die laut und bedrohlich über sie herzogen. Irgendwer muss sie reingelassen haben. Dann kam Roller-Gate. Cataltepe sagt, sie habe sich bedroht gefühlt und die Situation mit professioneller Unterstützung lösen wollen und deshalb die Polizei alarmiert.
Die "Bild"-Ausgabe mit der Kinderroller-Geschichte habe irgendwer später in den Briefkästen des Hauses und der Nachbarschaft drumherum verteilt, erzählt die Grüne und zeigt Fotos der Zeitungen, wie sie sauber in allen Briefkästen stecken. Um jede Ausgabe ist eine eigens angefertigte Banderole gewickelt: hochwertig bedruckt mit Cataltepes Namen darauf – da hat sich jemand sichtbar Mühe gegeben. Irgendwann später tauchte die "Bild" mit Banderole im Landtag auf, da hatte sie wer bei den Grünen ausgelegt, erzählt Cataltepe. Sie vermutet Goßner himself dahinter, und in der Tat stellt sich die Frage, wer es a) so wichtig nimmt mit diesem Roller und wer b) Zugang zum Landtag hat.
Ein anderes Mal fanden sich Zeitungen vor ihrer Haustür, auf denen rot und dick ihr Name stand, wie eine Markierung: Schaut her, hier wohnt die Grüne Cataltepe! Die mit dem Roller der Nachbarin! Da stellen sich plötzlich Fragen, sagt die Abgeordnete: Hängt man seine Wäsche noch im gemeinsamen Keller auf, wenn man befürchten muss, dass die Nachbarin irgendwie mit der AfD gemeinsame Sache macht? Cataltepe sagt, sie habe sich mittlerweile lieber fürs Trocknen auf dem Balkon entschieden. Auch Post sei in der Vergangenheit schon verloren gegangen, erzählt die Grüne. Und sie sorge sich um ihr Auto. Wo parken, wenn es – mutmaßlich gleich mehrere Menschen – auf einen abgesehen haben?
Und plötzlich sind die Maulhelden ganz klein mit Hut
Cataltepes Auto ist auch Thema auf der AfD-Kundgebung in Ebersbach. Oder besser: die Autos der Grünen generell. Andre Baumann, Staatssekretär des Umweltministeriums, fährt zum Windkraft-Event im schwarzen Daimler vor und parkt direkt vor dem Eingang. Mehrere geladene Grüne steigen aus der Luxuskarre, immerhin Fahrgemeinschaft. Bei der AfD unterdessen: Heiterkeit ob des dicken Autos. Die Grünen halt, haha. Einer ruft, dass man erstmal das Gefährt von Cataltepe sehen solle! Marke und Farbe werden durchs Mikrophon gebrüllt. Aus Datenschutzgründen sei nur so viel gesagt: Es handelt sich um einen SUV. Später wird Cataltepe erzählen, ihr Auto sei immer wieder Thema bei Goßners Reden im Landtag.
In Ebersbach fährt plötzlich ein Smart an der AfD-Demo vorbei. Der Fahrer ruft irgendwas mit "Arschlöchern" herüber, meint damit Goßner und Konsorten, die augenblicklich in Wallung geraten. "Anzeige!", brüllt Goßner, "Anzeige!" Ein Polizist nimmt die Beschwerde auf, Sekunden später hat der Mann vom Ordnungsamt den Fahrzeughalter ermittelt, der demnächst Post bekommt wegen Beleidigung. Bei den AfDlern wird unterdessen gescherzt und gegrient. Endlich mal wieder einem gezeigt, wo der Hammer hängt! Apropos Polizei in Göppingen: Auch Michael Weller ist mit Hans-Jürgen Goßner gegen Windräder unterwegs. Weller ist Polizist und sitzt für die AfD im Göppinger Kreistag.
Dann ruft Goßner zum Besuch der Infoveranstaltung auf der anderen Straßenseite auf. "Gerne kritisch äußern!", ruft er und lacht hämisch. Tatsächlich setzt sich der Anti-Windrad-Tross in Bewegung, erst noch beschwingt. Mit Übertreten der Schwelle zu einer richtigen politischen Veranstaltung mit echten Politikern, werden die, die draußen so eine große Gosch hatten, kleiner und kleiner. Innen: ein gefüllter Saal mit mehreren hundert Leuten, Befürworterinnen und Gegner der Windräder, die sich seit Jahren erbittert streiten. Die AfD-Leute sitzen letztlich regungslos und schweigend ganz hinten an der Wand, wie die Hühner auf der Stange.
Die AfD habe ihr Außenbild professionalisiert
Dann ist Pause und Goßner steht mit seinen Fans vor der Halle. Ob man ihn mit ein paar Fragen stören dürfe? Zum Beispiel: Warum er Cataltepe derart verfolgt, dass er sogar seine Stellung als Abgeordneter missbraucht, um die Landesregierung mit dieser bescheuerten Roller-Geschichte zu nerven? Das sei sein gutes Recht!, keift er, auf seiner Stirn bildet sich eine tiefe Zornesfalte, der Kopf färbt sich rot. "Informieren Sie sich mal richtig!" Und wie man überhaupt mit ihm, dem Abgeordneten, spreche! Er reckt den Finger in die Luft, dann dreht er sich um. Und zuckelt ab.
Im Februar war Neujahrsempfang der AfD, Goßner war auch dabei. Er bedauert, dass es in der Fraktion in der letzten Legislatur "einige Selbstdarsteller" gegeben habe, mittlerweile habe sich "die inhaltliche Arbeit und das Außenbild professionalisiert". Er spricht davon, wie es der AfD gelinge, bei der Regierungsfraktion und der "Schein-Opposition" "Panik auszulösen". Auch mit Anträgen und Anfragen.
Daran wirkt Goßner fleißig mit. Anfang des Jahres hat der Roller-Fanatiker wieder eine Kleine Anfrage formuliert. Diesmal mit sechs Fragen an die Landesregierung. Frage eins: "In wessen Besitz (Frau Cataltepe MdL oder Frau M.) befindet sich der Tretroller nach ihrer Kenntnis heute?" Die Landesregierung hat geantwortet: "Der weitere Verbleib des Rollers ist dem Ministerium der Justiz und für Migration und dem Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen nicht bekannt." Kleiner Tipp: Bei Aktionen der Göppinger AfD wurde zuletzt immer wieder ein roter Roller präsentiert, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht.
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Ivar
am 21.03.2023