Die Augenlider sind halb geschlossen, die Mundwinkel herabgezogen, die Unterlippe trotzig vorgestülpt. Die Haare kurzgeschoren, Bartstoppeln zeigen sich am Kinn. Die Gesichtsfarbe, ein ungesundes grünliches Gelb, scheint vom Licht des Vollmonds herzurühren, der durch die Gitterstäbe des Fensters die dunkle Zelle erleuchtet. Jeder Strich mit der Tuschfeder scheint einen Kratzer, jede Schattierung eine dunkle Stelle im Gemütszustand anzudeuten, seien es die Flecken unter den Augen oder die Falten der verbeulten, abgetragenen Jacke. Masken des Todes – die lachende Fratze eines noch nicht ganz verwesten Schädels, ein Erhängter, eine eingeschlagene Schädeldecke – scheinen den Gefangenen zu verspotten, der mit stoischer Miene seinem Schicksal die Stirn bietet.
Meisterhaft hat Rudolf Schlichter den Gefangenen wiedergegeben: ein Bild seiner Erfahrung einer dreimonatigen Untersuchungshaft, die im Januar 1939 zwar nicht mit einem Freispruch, aber doch mit einem Kompromiss endete. Wegen "unnationalsozialistischer Lebensweise" wurde der Künstler zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, die er durch die Untersuchungshaft bereits abgebüßt hatte. Der Grund: eine anonyme Anzeige wegen Kuppelei. Schlichter und seine Frau Katharina, genannt Speedy, hatten zwei Freunde, Otto Blessing und Dieter Sekler, als Untermieter in ihre Wohnung in der Neuen Weinsteige in Stuttgart genommen.
Wieder einmal kostete es den Künstler einige Mühe, das Unheil abzuwehren. Auf den ersten Blick kann schon verwundern, dass der ehemalige Dadaist und Kommunist, der 1920 auf der Ersten internationalen Dada-Messe in Berlin gemeinsam mit John Heartfield durch einen von der Decke herabhängenden "preußischen Erzengel" auf sich aufmerksam gemacht hatte, nicht schon früher ins Visier der Nazis geraten war. "Vom Himmel hoch da komm ich her", stand auf der Bauchbinde des Uniformierten mit Schweinskopf. "Um dieses Kunstwerk vollkommen zu begreifen", erklärte ein Schild, "exerziere man täglich zwölf Stunden mit vollgepacktem Affen und feldmarschmäßig ausgerüstet auf dem Tempelhofer Feld."
Ein Haufen begeisterter Lyncher
Schlichter war Pazifist. Dem Kriegsdienst an der französischen Front hatte er sich 1917 durch einen Hungerstreik entzogen. Seine Erlebnisse während der Mobilmachung im August 1914 hat er in einer Erzählung festgehalten, die wie der dritte Band seiner autobiografischen Schriften insgesamt den Titel "Die Verteidigung des Panoptikums" trägt: "Es genügte in diesen Tagen, durch ein ungewöhnliches Äußeres die Aufmerksamkeit der erregten Menge auf sich zu locken, um sofort einen Haufen begeisterter Lyncher auf den Fersen zu haben, die mit dem schrecklichen Ruf 'ein Spion' nicht zögerten, das ahnungslose Opfer ihres gerechten Zornes in eine unkenntliche Fleischmasse zu verwandeln."
Da der Text, 1995 veröffentlicht, nicht datiert ist und die ersten beiden Bände der autobiografischen Schriften, "Das widerspenstige Fleisch" und "Tönerne Füße", 1932 und 1933 erschienen, ist es gut möglich, dass sich die Erinnerung an den Anfang des Ersten Weltkriegs hier bereits mit neueren Eindrücken aus der Nazizeit vermengt. Jedenfalls bereiteten die zwei Bücher ihrem Verfasser nicht geringe Schwierigkeiten: Als "pervers-erotische Selbstdarstellungen" kamen sie auf Betreiben des Kampfbunds für deutsche Kultur auf die schwarze Liste der verbotenen Druckschriften.
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