Die Ablehnung historischer Aufklärung sei in Waldkirch "mindestens so ausgeprägt" gewesen wie in vergleichbaren Städten in der Bundesrepublik, vielleicht "ein bisschen stärker", sagt Wette. Von Jäger habe man zwar gewusst, dass er in Litauen mit Judenmorden zu tun hatte, "was genau, wusste man nicht. Aber dass er da keine Radieschen gepflanzt hat, das wusste man schon." Und dazu kam, dass – dank Jägers erfolgreicher Werbung – rund 200 Waldkircher Männer in der SS waren, was in diesem Umfang außergewöhnlich für eine kleine Stadt im süddeutschen Raum ist. Die meisten von ihnen kamen nach dem Krieg wieder nach Waldkirch zurück, lebten hier. Und gaben, so Wette, "die Devise aus: Der Deckel bleibt zu!" So dauerte es Jahrzehnte, bis Wette und andere Waldkircher an diesem Bild kratzten, weil sie sich aufregten "über dieses ganze: 'Wir wissen nichts!' oder 'Hier war doch nichts!'" – was dann auch Titel des Buches wurde.
Doch neben Deckel-zu-Haltern mehrten sich in Waldkirch auch die Stimmen jener, denen Aufklärung wichtig war. Ebenfalls 1989 fanden in Waldkirch Kulturwochen unter dem Motto "Waldkirch 1939 – davor und danach" statt. Es war das erste Mal nach dem Krieg, dass sich der Gemeinderat überhaupt mit dem Thema befasste – wegen großem innerstädtischen Druck.
Wette forschte weiter, stellte 2011 endlich sein Buch über Jäger im Waldkircher Geschwister-Scholl-Gymnasium vor, "und noch während der Veranstaltung stand jemand auf und hat gesagt: 'Wir müssen uns überlegen, wie wir künftig mit diesem Wissen umgehen.'" Das sei der Gründungsakt der so genannten Ideenwerkstatt "Waldkirch im Nationalsozialismus" gewesen.
Deren Wirken hatte bislang drei wichtige Stationen: Als erstes brachte sie an den Gräbern von sieben kurz vor Kriegsende erschossenen Deserteuren Informationen zum historischen Kontext an. Als zweites engagierte sie sich für ein Mahnmal für die litauischen Opfer Jägers in Waldkirch, das im Januar 2017 feierlich enthüllt wurde (Kontext dokumentierte Wettes Rede zur Einweihung). Und nun, als Versuch, mehr Wissen über die NS-Geschichte in Waldkirch zusammenzutragen, also das Buchprojekt. Eine Arbeit, die einen langen Atem erforderte.
Die Schwierigkeiten bei den Recherchen waren beträchtlich. Die Quellenlage ist alles andere als gut, denn zwei Verwaltungslehrlinge hatten noch kurz nach dem Krieg im Auftrag der Verwaltungsspitze alle städtischen Akten vernichtet, die an den Nationalsozialismus erinnerten. Nicht nur über Jäger und die SS findet sich deshalb in Waldkirch "kein Blatt Papier", so Wette. "Die haben gründlich die Spuren verwischt". In anderen Archiven, der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg und der zeitgenössischen Presse fand sich dennoch ausreichend Material.
Es gab Spielräume
Durch die Recherchen zum Buch konnte Einiges an Unbekanntem zu Tage gefördert werden, das auch den NS-Experten Wette erstaunte. Völlig neu etwa war die Erkenntnis, dass es 1933 auch in Waldkirch eine lokal organisierte Bücherverbrennung gab. "Auf völlig freiwilliger Basis, nicht von oben angeordnet, sondern auf Initiative der örtlichen Nazis, mit ähnlichen Reden wie in den Großstädten", sagt Wette. Die regionale Presse diente hier als Quelle, auch dieses Ereignis wurde nach 1945 totgeschwiegen. Genau wie die bislang unbekannten Fälle von Euthanasie in Waldkirch, auf die man über Akten der Gedenkstätte Grafeneck gestoßen war.
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