"Das Haus habe ich vor fast 30 Jahren besetzt", erklärt er. Er ist für einige Tage zurückgekommen, weil er in der Liebigstraße 34 sein kürzlich veröffentlichtes Buch mit dem bezeichnenden Titel "Stino – von West nach Ost durch Berlin 1990" vorstellt. Stino wie stinknormal. "So wurde ich in der Zeit der Hausbesetzungen genannt, weil ich einen so harmlosen und bürgerlichen Eindruck machte", sagt Antonio Porète, und man glaubt es ihm sofort. Dezent, unauffällig, stinknormal, diese Attribute passen auf ihn.
Anfangs habe er sich über seinen Spitznamen etwas geärgert, erzählt er. Aber bald hatte er ihn akzeptiert und heute kokettiert er sogar ein wenig damit. Seinen richtigen Namen möchte er nicht nennen, weil er nicht sofort gegoogelt werden will. Für sein Buch hat er den Aliasnamen Antonio Porète gewählt. Auf knapp 260 Seiten erzählt er dort, wie sich im Frühjahr 1990 ein junger Mann nach dem Abitur aus dem Schwabenland via Mitfahrgelegenheit nach Berlin aufmachte. Dort hatte er sich an Freien Universität (FU) für die Studienfächer Informatik und Philosophie eingeschrieben. Doch dafür hatte er bald wenig Zeit.
In den letzten DDR-Monaten entstanden ungeahnte Freiräume
Denn im Osten Berlins war nach der Maueröffnung der kurze Sommer der Anarchie ausgebrochen. Die Macht der SED war verschwunden, doch die DDR bestand noch bis zum 3. Oktober 1990 weiter. In dieser Zwischenzeit entstanden Freiräume, die woanders längst keine Chancen mehr hatten. Innerhalb weniger Wochen wurden weit über 100 Häuser in Ostberlin besetzt. Mit polizeilichen Räumungen war nicht zu rechnen, aber wegen der vermehrten Angriffe der damals schon starken Neonaziszene wurden die besetzten Häuser mit Falltüren ausgestattet.
Porète erinnert sich noch sehr gut, wie er mit anderen BesetzerInnen in der Liebigstraße 34 eine Falltür einbaute, die sie auf der Straße gefunden hatten. Es war die Zeit, als fast täglich die Büros leergeräumt wurden, in denen die vielen Vereine und Organisationen des DDR-Systems ihren Sitz hatten. Das Inventar landete meistens auf der Straße. "Ganz viele BesetzerInnen haben sich dort bedient", sagt Porète.
Er hatte sich schnell in dieser Szene eingelebt, nachdem die ersten Hemmungen überwunden waren. "Es war die pure Wohnungsnot, die mich zu den Hausbesetzern trieb", betont er. Für wenige Monate hatte er in Westberlin zur Untermiete gelebt und gehofft, schnell ein eigenes Zimmer zu finden. Doch das sollte sich schon vor fast 30 Jahren als schwierig erweisen. Als der Tag seines Auszugs näher rückte und er keine neue Bleibe gefunden hatte, erinnerte er sich an die Erzählung eines Kommilitonen, der von den vielen leeren Häuser und Wohnungen im Osten Berlins schwärmte.
"Ich war schon politisch interessiert, aber ein Haus zu besetzen, hatte ich mich dann doch nicht getraut", beschreibt Porète die anfänglichen Hemmungen. Zudem ist er individualistisch veranlagt und nicht der Kollektivmensch, der stundenlang auf Plenen über Gott und die Welt diskutiert. Dass er trotzdem zum Hausbesetzer wurde, lag auch daran, dass es damals so einfach war.
Im Frühling und Sommer 1990 trafen sich regelmäßig Wohnungssuchende und besichtigten leerstehende Häuser. Doch eingeladen wurden sie nicht wie heute von MaklerInnen, die gab es damals noch nicht in Ostberlin. Nach jeder dieser Erkundungen wurde die Gruppe der Wohnungssuchenden kleiner und die Zahl der besetzten Häuser und Wohnungen größer. Am 20. Juli 1990 hatte schließlich auch Porète in der Liebigstraße 34 gerade noch rechtzeitig eine Bleibe gefunden. Wenige Tage später wurde auch im Osten die sogenannte Berliner Linie eingeführt, nach denen Neubesetzungen innerhalb von 24 Stunden geräumt werden sollen.
Linke Dogmen und Tabus missachtet – oha!
Porètes Besetzerzeit währte etwas mehr als drei Monate. Das ist auch der Zeitraum, über den er in seinem Buch schreibt. Es ist vergnüglich zu lesen, weil sich Porète darin als einen jungen Naiven beschreibt, der von vielen linken Dogmen keine Ahnung hat. Immer wieder missachtet er auch Tabus, die in der linken Szene aufgestellt werden. Dazu gehört das Credo, dass man sich von PolitikerInnen fernzuhalten habe, weil die ja das System repräsentieren, das man ablehnt.
Porète erzählt etwa, wie er zufällig mit dem damaligen SPD-Bürgermeister von Friedrichshain Helios Mendiburu ins Gespräch kam. Dass er ihn dann auch bei manchen zufälligen Begegnungen demonstrativ grüßte, irritierte manchen MitbesetzerInnen. Das aber machte Porète sichtlich Freude, und so ist das Buch auch im guten Sinne das Dokument eines Menschen, der auch über sich selbst und die eigene Szene lachen kann.
Das Buch endet wie Porètes Besetzerbiographie mit der Räumung der Mainzer Straße, einer Häuserzeile in Friedrichshain, im November 1990. Wenige Wochen nach der Wiedervereinigung war damit der kurze Sommer der Ostberliner BesetzerInnen zu Ende. Porète beschreibt das Klima jener Tage, das stundenlange Warten auf die aus ganz Deutschland anrückenden Polizeikräfte und die mit Falschbehauptungen garnierte Hetze vieler Medien über die BesetzerInnen. Er erinnert aber auch die vergeblichen Versuche zahlreicher BewohnerInnen in der Mainzer Straße, durch Verhandlungsangebote die Eskalation noch zu stoppen.
Zu den PolitikerInnen, die diese Vermittlungsversuche unterstützten, gehörten neben Bürgermeister Mendiburu auch Mitglieder der DDR-Oppositionsbewegung wie Bärbel Bohley. Doch vom Berliner Senat war niemand zu Verhandlungen bereit. "Die wollten räumen. Das Vertrauen in dieses neue Deutschland hat nun spürbar einen Riss bekommen", erinnert sich Porète an diese Zeit. Wie viele andere zog er sich danach aus der Besetzerbewegung zurück, lebte noch einige Zeit in einer Berliner Mietwohnung, bis er der Stadt endgültig den Rücken kehre.
Im besetzten Haus hat er gelernt, sich zu wehren
Seit Jahren lebt er wieder in einer schwäbischen Heimat und arbeitete lange als Softwarenentwickler in einer mittelständischen Firma in Fellbach. Doch die wenigen Wochen in der Berliner Hausbesetzerbewegung hat er nicht vergessen. "Dort habe ich gelernt, dass es lohnt, zu widersprechen und um seine Rechte zu kämpfen", sagt Porète.
Das hat durchaus seinen Preis. Seit Jahren ist Porète in Arbeitsgerichtsprozesse verwickelt, weil er sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen und Arbeitshetze wehrte. Mehrere Prozesse hatte er gewonnen. Doch dann begann das Mobbing. Er wurde von seinen KollegInnen isoliert. "Mein Arbeitsplatz bestand aus einem Kantinentisch, einem Kantinenstuhl und einem veralteten PC ohne Internetanschluss", berichtet Porète. Prompt folgte die nächste Kündigung, weil er einen eigenen Router angeschlossen hatte. Am 14. Januar 2020 wird ab 9.15 Uhr vor dem Stuttgarter Arbeitsgericht darüber verhandelt. Ein Solidaritätskreis ruft zum Besuch des Prozesses auf.
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