Sie wurden Fotojournalist, der die geschlossene Welt verlässt und durch die Welt reist. Wie kamen Sie darauf?
Fotografie hat mich immer interessiert. Außerdem treibt mich das Thema Grenzen, Ränder und Mauern schon lange um – die physischen Grenzen in der Welt, aber auch die Mauern in unseren Köpfen, also Vorurteile, Stereotype und Feindbilder. Um mich damit zu beschäftigen, bin ich in Konfliktgebiete gereist, in denen Grenzen ja eine große Rolle spielen. Als dann 2015 die sogenannte Migrationskrise aufkam, war klar, dass dieses Thema mein Schwerpunkt wird.
Europa schottet sich ab, die Grenzen sind inzwischen verschlossener. Was hat sich dadurch verändert?
Etwas Simples habe ich in den zehn Jahren gelernt, in denen ich Fluchtrouten auf dem Balkan und an anderen Orten aufgesucht habe: Wo man Mauern hochzieht, werden sie überwunden oder die Geflüchteten suchen andere Routen. Grenzen lösen keine Probleme, stattdessen riskieren wir dadurch unsere Menschlichkeit. Ich weiß, das klingt wahnsinnig pathetisch, aber die Menschlichkeit ist der alles entscheidende Faktor für unsere offene Gesellschaft.
Wenn man von brutalen Pushbacks an den EU-Außengrenzen liest, ist der Verlust der Menschlichkeit doch schon groß, oder?
Das sehe ich auch so. Möglich ist dies durch die feindselige Stimmung, die in vielen Ländern herrscht – und die wiederum ist eine Folge von Vorurteilen und Klischees. Wir brauchen einerseits Stereotype, um die Komplexität der Welt bewältigen zu können. Aber zwischen ihnen und Vorurteilen oder gar Feindbildern verläuft nur eine dünne Linie. Dann verschwindet der Mensch hinter den Klischees, es gibt nur den Muslim, den Geflüchteten oder den Randständigen. Sie sind Stellvertreter, werden zur Schablone, die man viel einfacher beschämen, ausgrenzen, bekämpfen oder sogar töten kann, als wenn man den Menschen gegenüber sieht. Und wir wissen aus der Geschichte, dass es schwer ist, solche Feindbilder zu bekämpfen, wenn sie erst einmal da sind.
Und sie wollen mit Ihrer Arbeit den Klischees und Vorurteilen etwas entgegensetzen?
Ja, aber das ist eine große Herausforderung. Die Bilder in den Köpfen sind oft festgefahren. Selbst in den Medien findet man viele Fotos, die sie nur bestätigen – wenn man zum Beispiel im Nahostkonflikt ständig israelische Soldaten zeigt, die bis an die Zähne bewaffnet sind, und Steine werfende Palästinenser. Dabei sollten wir Journalisten vorhandene Stereotype nicht stärken, sondern versuchen, die Perspektive zu erweitern.
Und wie machen Sie das?
Indem ich versuche, den Menschen näherzukommen. Dafür muss man aber viel Zeit mitbringen, die heute nur noch wenige Journalisten haben. Ich war zeitweise alle zwei, drei Monate immer wieder an denselben Orten entlang der serbischen, ungarischen, bosnischen und kroatischen Grenze. Ich war also auch dann dort, als medial nichts gelaufen ist. Mich haben dabei immer die Geflüchteten interessiert, die nicht in den offiziellen Camps, sondern irgendwo in Baracken, verfallenen Häusern oder Wäldern leben und versuchen, mit Hilfe von Schleppern über die Grenze zu kommen. Das gelingt häufig nicht, der Balkan wird für viele zur Sackgasse. Deshalb habe ich über Jahre dieselben Menschen immer wieder getroffen, habe ihr Vertrauen gewonnen und konnte ihren Alltag dokumentieren, in dem es auch eine gewisse Normalität gibt.
Das heißt?
Ich zeige nicht nur erschöpfte Gesichter und brennende Lager, sondern die Geflüchteten beim Kochen oder Fußballspielen. Ich glaube, dass dadurch das gängige Bild von ihnen in ein anderes Licht gerückt wird. Solche Fotos sind aber auch gefährlich, wenn man sie nicht kontextualisiert. Dann können sie instrumentalisiert werden: "Seht her, die jungen Kerle haben es gut, das ist doch ein großes Abenteuer für sie." Ich teste das auch immer wieder in meinen Vorträgen: Wenn ein Foto nicht zu den Bildern in den Köpfen passt, gibt es Erklärungsbedarf. Diese Dynamik finde ich sehr interessant.
Sie berichten nicht nur über Geflüchtete auf dem Balkan, sondern über Prostituierte, Erntehelfer in der Schweiz und viele andere Menschen.
Vorurteile und Feindbilder sind der rote Faden meiner Arbeit. Sie begegnen mir genauso in den Reportagen über die Leute am Rand unserer Gesellschaft. Feindbilder haben Hochkonjunktur, das wird leider in den nächsten Jahren auch so bleiben. Dagegen anzukämpfen ist wichtig für unsere Gesellschaft. Ein Weg sind Geschichten, die so erzählt sind, dass die Menschen darin nicht nur zum Stellvertreter einer Gruppe werden, sondern uns näherkommen.
Wenn Sie den Menschen nahekommen, bringt Sie das nicht manchmal zur Verzweiflung?
Teilweise schon. Ich bleibe zwar in der Rolle des Beobachters, des Journalisten, da bin ich den Menschen gegenüber auch immer transparent, aber Empathie ist natürlich immer im Spiel. Ich bekomme auch Zweifel an meiner Arbeit, wenn ich sehe, dass sich die Situation der Menschen beispielsweise auf dem Balkan sogar noch verschlechtert hat. Aber man erlebt auch viel Schönes und Lustiges an diesen Orten und auch viel Solidarität.
Gibt es denn Gemeinsamkeiten zwischen ihrer Arbeit als Philosoph und als Fotojournalist?
Zur DNA von Philosophinnen und Philosophen gehört die Skepsis: Könnte es in Wirklichkeit nicht ganz anders sein als das, was man glaubt und sieht? Diese Skepsis ist es, die für mich die Philosophie mit dem Journalismus verbindet.
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