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Pauluskirche in Stuttgart-West

Eine Kirche kämpft ums Überleben

Pauluskirche in Stuttgart-West: Eine Kirche kämpft ums Überleben
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 Fotos: Jens Volle 

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Die Evangelische Landeskirche hält die Pauluskirche im Stuttgarter Westen für verzichtbar und will den Abriss. Eine Initiative hält dagegen. Als Kompromiss sollte eine Sanierung der Außenstützen fünf Jahre Zeit bringen. Doch schlampige Bauarbeiten machen alles nur noch schlimmer.

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Wolfram Steinmayer kann es nicht fassen: Es sei ja in Ordnung, bei Arbeiten an der Fassade die Fallrohre zu entfernen, meint der Architekt im Ruhestand. "Aber dann muss man doch das Wasser richtig ableiten!" Das Dach der Pauluskirche im Stuttgarter Westen besteht aus einem Zickzack von sieben kleinen Giebeln. Dazwischen sammelt sich das Regenwasser. "Jetzt läuft es direkt an der Fassade herunter", stellt Steinmayer entsetzt fest, "in die Trennfuge zwischen Kirche und Gemeindesaal. Da sucht es sich den Weg des geringsten Widerstands. Das Parkett ist beschädigt, die Wärmedämmung durchnässt."

Vor zwei Jahren wollte die Evangelische Gesamtkirchengemeinde Stuttgart die 1961 fertiggestellte Pauluskirche abreißen. Druck kommt von der Landeskirche, die viele Immobilien besitzt und sich den Unterhalt nicht mehr leisten kann. Daher erfolgt verstärkt die Zusammenlegung von Kirchengemeinden, die dann selbst entscheiden sollen, welche Sakralbauten verzichtbar sind. Zur Kirchengemeinde Stuttgart-West gehören drei Kirchen: Der denkmalgeschützten Johanneskirche am Feuersee kam erst kürzlich eine Sanierung in Höhe von fünf Millionen Euro zugute. Die Paul-Gerhardt-Kirche wird von einer Stiftung mitgetragen, eine weitere setzt sich für den interreligiösen Dialog ein; ein Begegnungszentrum zieht mehr Besucher an als der sonntägliche Gottesdienst. Bleibt nur die Pauluskirche.

Kirche gegen Kirche

Dass diese aber verzichtbar sein soll, wollen nicht alle im Westen einfach so hinnehmen. Daher hat sich nach dem Bekanntwerden der Abrisspläne eine Initiative gebildet, die den Bau erhalten will: das Komitee "Paulus jetzt!". So gelang 2023 ein Kompromiss: Die Kirche lässt die Außenstützen instandsetzen, um die Standfestigkeit zu sichern und fünf Jahre Zeit zu gewinnen. Seit einem Jahr laufen die Arbeiten. Doch sie machen nun alles nur noch schlimmer.

Steinmayer, heute über 80, hat selbst an der Pauluskirche mitgebaut. Im Baupraktikum noch vor dem Architekturstudium mauerte er an der Altarwand, später zeichnete er im Büro des Architekten Heinz Rall – dem führenden württembergischen Kirchenbauer der Nachkriegszeit – das Mosaik der Lochziegel an den Seitenwänden. Viel Sorgfalt haben die Architekten und Arbeiter damals auf den Sichtbeton der Stützen verwendet. Heute rückt das Bauunternehmen ihnen und den Betonglasfenstern von Maler Christian Oehler mit Hochdruckstrahlern zu Leib. Die Fenster seien fleckig geworden, bemerkt Julia Keinarth, ebenfalls Mitglied im Pauluskomitee, auch sie Architektin. Der neu aufgebrachte Beton habe zudem große Löcher. Die Bauarbeiter würden die Fenster mit der Wurzelbürste reinigen, habe man ihr gesagt.

Schon wieder ein Wasserschaden

Während der Sitzung des Komitees klopft es schüchtern an der Tür. "Ich will nicht stören", entschuldigt sich Matthias Szegedi, der Mesner: "Aber es hat schon wieder einen Wasserschaden gegeben." Der sechste allein auf der Westseite, wo das Wasser an der Wand hinter den gerahmten Bildern einer Fotoausstellung herabläuft, um die Steckdosen herum. Dann dringt es in die Wärmedämmung ein und tropft aufs Parkett. Drei Tage später findet sich am Dach eine improvisierte Ableitung, die das Wasser von der Fassade weg aufs Gerüst lenkt. Fachgerecht sieht anders aus.

Bei Kirchengebäuden wurde traditionell immer viel Wert auf Gestaltung und hochwertige Materialien gelegt. Sie verkörpern die Werte der Gemeinschaft und stehen im Zentrum des jeweiligen Orts oder Stadtteils. Auch die Pauluskirche: Als eine der größten Kirchen Stuttgarts steht sie oberhalb des Bismarckplatzes, ein städtebaulicher Höhepunkt im Gründerzeit-Quadratraster des Stadtteils. Unter 62 Architekten gewann Heinz Rall 1956 den Wettbewerb für einen Neubau, auch weil er die Kirche gegenüber ihrer Vorgängerin aus dem 19. Jahrhundert um 90 Grad drehte und damit unten weitere, ebenerdig zugängliche Räume mit Tageslicht hinzugewann.

Schon damals diente der Bau nicht nur dem Gottesdienst. Der Gemeindesaal samt Nebenräumen und die Räume im Untergeschoss bieten sich an für verschiedene Nutzungen. An der Pauluskirche wirkte der Komponist Clytus Gottwald, der mit seiner Schola Cantorum die moderne Chormusik geprägt hat. Auch heute proben dort mehrere Chöre und ein Orchester. Der Kirchenraum selbst ist der größte Saal des Stuttgarter Westens, betont Keinarth. Sie spielt selbst im Posaunenchor, der gerade probt, als sich die Initiative versammelt.

"Für alle, die diesen Ort nutzen und benutzen, ist nicht nachvollziehbar, wie achtlos mit dem Bau umgegangen ist", schimpft Steinmayer. "Wir werden nicht informiert. Die Gemeinde wird nicht informiert", fügt Keinarth hinzu. "Auf alle meine Schreiben habe ich praktisch keine Antwort erhalten."

Auf Anfrage von Kontext antwortet Thilo Mrutzek, Leiter der kirchlichen Bauabteilung, sofort: Die Wasserschäden "sind uns bekannt, dokumentiert und sowohl dem Büro, welches mit der Planung und Bauleitung beauftragt ist, als auch dem Fachunternehmen angezeigt worden", schreibt er. "Unser Standpunkt ist, dass die entstandenen Schäden auf Kosten des Verursachers beseitigt werden und der ursprüngliche Zustand wieder herzustellen ist. Hierzu sind wir mit den Beteiligten in Kontakt. Seien Sie versichert, dass auch für uns diese Situation höchst unbefriedigend ist und wir an einer Lösung arbeiten."

"Auf Augenhöhe" soll verhandelt werden

Die meisten privaten Hausbesitzer, denen so etwas passiert, würden wohl weniger "an einer Lösung arbeiten", sondern zum Anwalt gehen. Steinmayer sagt, die Kirche habe für die Sanierung den billigsten Anbieter genommen, dazu sei sie nach der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB) auch verpflichtet. Aber eigentlich gebe es eine Gewährleistungspflicht, die mangelfreie Dienstleistungen zusichern soll.

Während die Bauabteilung an einer Lösung für die Bauschäden arbeitet, setzt die Gesamtkirchengemeinde die Initiative unter Druck. In nur vier Wochen, vom 15. Januar an, soll in einem Beteiligungsverfahren ein neues Nutzungskonzept gefunden werden – inklusive Finanzierungsplan. Die Gesamtkirchengemeinde, die Kirchengemeinde Stuttgart-West und das Pauluskomitee sind mit je drei Personen vertreten, wie es heißt "auf Augenhöhe". Die Rollen sind so verteilt: Alle Entscheidungen fällt allein die Gesamtkirchengemeinde; die Initiative darf mitreden und die West-Gemeinde soll sich an den Kosten beteiligen. Um diese zu decken, sind jährliche Einnahmen von mindestens 200.000 Euro nachzuweisen.

Dass das so funktionieren kann, erscheint sehr fraglich. Um eine neue Nutzung für die Pauluskirche zu finden, bräuchte es wohl eine wesentlich breitere Beteiligung und vor allem viel mehr Zeit. Es ist die größte Stuttgarter Gemeinde, es soll weiterhin Gottesdienst stattfinden – ähnlich wie in der katholischen Kirche St. Maria im Süden der Landeshauptstadt, die sich die "Öffnung des Kirchenraums zur Stadtgesellschaft hin und die Kooperation mit Menschen und Institutionen in der unmittelbaren Umgebung" vorgenommen hat und auch praktiziert. Aber was genau die Dinge sind, die in einer Kirche sinnvollerweise neben Gottesdienst und Orchesterproben geschehen könnten: Das müsste ja erst einmal ermittelt werden. Wo besteht ein Bedarf? Welche Einnahmen lassen sich generieren?

Es ist eine Aufgabe für den ganzen Stadtteil. Bezirksvorsteher Bernhard Mellert (Grüne) hat Zustimmung signalisiert, die Pauluskirche erhalten zu wollen. Die Grünen im Gemeinderat haben bereits im September 2023 einen Antrag gestellt: "Die Zukunft der Pauluskirche sichern – Veränderungsprozess begleiten". Das Paulus-Zentrum sei ein Ort der Begegnung und des bürgerschaftlichen Engagements: "Das kulturelle Programm und die verschiedenen Angebote für alle Generationen ziehen jedes Jahr fast 10.000 Besucher:innen an." Doch bislang hat die Stadtverwaltung darauf nicht geantwortet.

Fast wie bei Immobilienunternehmen

Die Kirche allein kann die Transformation nicht bewerkstelligen. Aber die Verantwortlichen auf Landesebene könnten sich entschlossener für einen Erhalt einsetzen, statt wie ein gewöhnliches Immobilienunternehmen zu handeln: Was sich nicht rechnet, kommt weg. In den letzten 30 Jahren haben sich die Kirchensteuereinnahmen halbiert. Da könnte es in Versuchung führen, dass viele Grundstücke auch lukrativer nutzbar wären als mit Gottesdiensten – zum Beispiel mit einem Altenheim. Die Kirchengemeinde Stuttgart-West ist jedenfalls längst nicht die einzige in Baden-Württemberg, die der Landeskirche mitteilen soll, welche Bauten verzichtbar sind.

Zerfleischungsprozesse nennt das die Mutter von Julia Keinarth, Sibylle Brodbeck-Keinarth. "Ich bin mein ganzes Leben lang Teil der Paulusgemeinde gewesen", protestiert sie. "Die Landeskirche hat für 70 Millionen ein neues Verwaltungsgebäude an der Gänsheide im Stuttgarter Osten errichtet. Für uns ist nicht mal eine Million da."

Dabei ist das Problem seit geraumer Zeit bekannt. Bereits vor acht Jahren hat die Wüstenrot Stiftung einen Preis für vorbildliche Umnutzungen von Kirchen verliehen. Die Publikation dazu steht bis heute gratis zum Download zur Verfügung. "Kirchen als vierte Orte"  lautete zudem der Titel einer Ausstellung, den der Verein Baukultur Nordrhein-Westfalen im vergangenen Jahr in der Essener Heilig-Geist-Kirche ausgerichtet hat und die nun auf Wanderschaft geht. "Vierter Ort": Das meint einen Ort, der über die Funktionen Wohnen, Arbeiten und Treffpunkt hinaus etwas Besonderes, "einzigartige Atmosphären sowie emotionale Qualität" bietet und zur Identifikation einlädt.

"Dem Leerstand und Abriss von Kirchen steht ein gesellschaftlicher Bedarf nach Orten für sozialen Austausch, Gemeinschaft und gesellschaftliche Identifikation gegenüber", heißt es in der Ankündigung der Ausstellung. Ein dazu gehöriges Manifest "Kirchen sind Gemeingüter!" setzt sich für "eine neue Verantwortungsgemeinschaft" ein, um die Zeugnisse des Kulturerbes zu bewahren. "Wer diese Bauten heute allein privatwirtschaftlich als Immobilien betrachtet", heißt es weiter, der "beraubt die Communitas."

Das Magazin "Zukunft Kirchen Räume" nennt als wichtigen Erfolgsfaktor für gelingende Umnutzung eine externe Begleitung und hält fest :"Wenn man wirklich neue Orte für alle schaffen will, muss man sich auch mit allen an einen Tisch setzen." Eine große Aufgabe für den Stuttgarter Westen.


Hinweis: Noch bis 18. Mai ist in der Pauluskirche eine Ausstellung der Fotografin Rose Hajdu zu den Kirchenbauten Heinz Ralls zu sehen, geöffnet mittwochs und donnerstags von 15 bis 18 Uhr, sonntags 9 bis 12 Uhr und auf Anfrage.

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1 Kommentar verfügbar

  • Volker Würthwein
    am 20.01.2025
    Antworten
    Ein weiteres, bedeutsames Argument für die Erhaltung der Pauluskirche (v.a. des Ensembles) ergibt sich aus einem wunderbaren literarischen Denkmal, das der Kirche bzw. dem Kirchplatz vom Stuttgarter Autor Helmut Pfisterer in den 2000er Jahren "gesetzt" und als Broschüre posthum 2013 vom Stuttgarter…
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