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Kultstatus schützt vor Abriss nicht

Kultstatus schützt vor Abriss nicht
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Kultig und schräg, doch vor allem im Weg: Das Szenelokal Tanke in Radolfzell wird plattgemacht. Betongold sticht Alternativkultur – das ist auch in der Bodenseestadt gängige Kommunalpolitik.

Auf die blau-weißen Markisen draußen hat die Zeit gelbe Schatten geworfen. Und die Kürbisse vom letzten Ernte-Tank-Fest sind schon etwas angestaubt. Die Tanke in Radolfzell mag eine etwas schlampige Schöne sein. Doch dieses Lokal, das in den 50er-Jahren als Tankstelle anfing, wo seit nun 26 Jahren Bier ausgeschenkt wird – nicht blasenfrei und aus der Flasche –, es hat das Herz auf dem richtigen Fleck. Junge und Junggebliebene treffen sich hier. Zum Songslam. Zur Diskussion über Kultur in Radolfzell. Zur Bluesnight. Oder einfach zum Plaudern bei einem Bier oder einem Caipirinha. "Und von 17 bis 70 alle unter einem Dach", sagt Christoph Manz.

Der Mitfünfziger hat die Tanke zu dem gemacht, was sie heute ist: ein Treffpunkt für die Alternativen. Die Widerborstigen. Für die, die es auch gerne mal laut, schräg und etwas jenseits der Blasmusik haben wollen. Und für die Arrivierten, die keine Angst vor anderer Lebenskultur und Musik haben. Der grüne Gemeinderat und frühere Landtagsabgeordnete Siegfried Lehmann gehört dazu. Auch der jetzige OB Martin Staab hat hier schon über Kultur diskutiert. An den harten Fakten hat dies nichts geändert. Die Tanke steht im Weg. Wohnungen sollen hier auf dem Schützenplatz gebaut werden. Eigentumswohnungen, zentrumsnah. Am Bodensee setzt man auf reiche Schweizer und potente Rentner. Und in der Radolfzeller Verwaltung auf Investoren. "Auf uns, für alle und gegen Betongold" – unter diesem Motto hat die Tanke am 2. Oktober einen Schnaps ausgegeben. Christoph Manz' Humor ist derzeit etwas schwarz gefärbt.

Da sitzt er in der ochsenblut-roten Raucherlounge seiner Tanke, blauer Hoodie, graue Cordhose, kurzes Haar, Mitte 50, charmantes Lächeln. Und klare Worte: "Eine Stadt braucht Kultur, auch für die wirtschaftliche Entwicklung." Vor 26 Jahren verschlug es den gebürtigen Berliner an den Bodensee, der Liebe wegen. Verliebt hat er sich auch in die Tankstelle aus den 50er-Jahren, hat sie aus- und umgebaut über die Jahre zu einem eigenwilligen Ensemble aus Kiezkneipe und Jugendhaus-Charme. Und was haben die Radolfzeller 1990 zu dem Berlin-Import gesagt? "Komischer Berliner macht komische Sachen", sagt Manz, grinst und zieht an seiner Selbstgedrehten.

Das hat sich schnell geändert. Manz ist nicht nur Wirt, sondern auch Musiker und Dichter. Zur Eröffnung hat er mit seiner Band gespielt. "Position 69" hieß die damals, heute "vielmanz nature band". Die Stücke schreibt er selbst, "dass Bob Dylan den Literaturpreis bekommen hat", findet er super. Und aus den komischen Sachen wurde ein Magnet für Kulturinteressierte weit über Radolfzell hinaus. Inzwischen bescheinigt man dem unkonventionellen Kneiper und seiner Tanke sogar in der städtischen Pressestelle "Kultstatus".

Doch Kultstatus heißt in Radolfzell nicht schützenswert. 2013 wurde zum Schicksalsjahr für die Tanke. Die langjährige Eigentümerin des gesamten Areals starb, die Erbengemeinschaft kündigte dem Tanke-Betreiber. Erschwerend hinzu kam ein Wasserschaden in der benachbarten Pizzeria, dem Schützen. Das denkmalgeschützte Haus, das jahrelang nicht saniert worden war, es war nicht mehr zu retten. Und damit ein innerstädtisches Areal frei. Die Erbengemeinschaft witterte Geld, verkaufte an den Investor Gnädinger & Meyer. Und die wissen, dass man mit stadtnahen Eigentumswohnungen am Bodensee Profite macht. Der angrenzende Gerberplatz war die wenig schöne Blaupause. Teure Wohnungen, Schickimicki-Gewerbe, glatte Architektur, an der der Blick abgleitet. "Die Straße verödet, wenn die Tanke und ihr lebendiges Publikum weg sind", sagte Manz den Investoren. "Unsere Klientel braucht das nicht", antworteten die kühl. So erzählt es Manz.

Das Pech der schlampigen Schönen ist ihre Innenstadtnähe, die für Investoren mit kaufkräftiger Klientel reizvoll ist. Ihr Pech ist auch, dass die Stadt keinen Bebauungsplan für das zentrumsnahe Schützenareal aufgestellt hat.

Einer, der das kritisiert, ist Gemeinderat Siegfried Lehmann, 61, Tanke-Gänger ("zauberhafte Atmosphäre, super Kulturangebot"). "Eine Stadt wird lebendig durch vielfältige Nutzung", sagt Lehmann. Als langjähriger Radolfzeller kennt er den Kulturkampf in seiner Heimatstadt schon länger. Bei der Bebauung des angrenzenden Gerberplatzes etwa musste schon das Residenzkino weichen. Und in der Sache Tanke und Schützenareal ist der Gemeinderat gespalten. Lehmann geht es um die Kultur in seiner Stadt, aber auch um erschwinglichen Wohnraum für die Radolfzeller. "Unsere attraktive Seelage, die Schweizer und das viele Geld, das unterwegs ist, erhöhen den Druck auf Nachverdichtung", weiß der grüne Gemeinderat. Lehmann kämpft für einen vernünftigen Bebauungsplan und ein Ausweichquartier für Christoph Manz.

Der Radolfzeller OB Martin Staab findet leider keine Zeit für ein Gespräch, teilt Julia Theile von der städtischen Pressestelle mit. Doch schriftlich will sie die Fragen gerne beantworten. "Mehrere Gemeinderäte haben sich in den Gremien öffentlich für den Erhalt der Tanke ausgesprochen", liest man da. "Und auch die Verwaltungsspitze hatte gehofft, die Tanke erhalten zu können." Grundsätzlich könne die Verwaltung einem Investor leider nicht vorschreiben, welche Einrichtung er erhalten müsse. "Das Baudezernat der Stadtverwaltung hat selbstverständlich auf den Investor eingewirkt, dass die Tanke erhalten werden soll – bedauerlicherweise ohne Erfolg." Angeboten hat die Stadtverwaltung Christoph Manz die ehemalige Kfz-Werkstatt Salamone, "zentrumsnah und bezahlbar sowie genehmigungsfähig, mit einer Nutzung von drei bis vier Jahren". Christoph Manz sagt: "Keine Klos, keine Leitungen, befristete Nutzung, das ist wirtschaftlich nicht praktikabel."

Marcus Gmeineder wohnt nicht mehr in Radolfzell. Der Vorstand des Radolfzeller Kulturvereins Musica Maris ist nach Singen gezogen, da kann man die Miete noch bezahlen. "Der Innenstadtverdichtung fällt vor allem bezahlbarer Mietwohnraum, die Vielfalt von Kulturangeboten, Kleingewerbe und Begegnungsstätten für junge Menschen zum Opfer", sagt der Kulturveranstalter beim Schlendern durch die 30 000-Einwohner-Stadt. "Die Tanke ist so ein Begegnungsort", sagt Gmeineder beim anschließenden Bier in der ehemaligen Tankstelle. An diesem Abend ist DJ Kette der Musikchef.

Inzwischen hat das Abendlicht den Gilb von den blau-weißen Marquisen geschluckt. Rot schimmert die Beleuchtung aus dem Raum, in dem früher die Rechnung für Benzin beglichen wurde. In der Ecke steht eine alte Zapfsäule. An der Decke hängt ein roter Stuhl, das Symbol für die Red-Chair-Abende, bei denen immer ein anderer DJ auflegt. Oft auch der Chef persönlich. Weit über Radolfzell hinaus ist die Tanke eine Größe. Und seit sie im Merian-Heft über Baden-Württemberg lobend erwähnt wurde, findet so mancher Bodenseetourist in die Radolfzeller Untertorstraße. Christoph Manz hat alle Belege der Geschichte in geordnetem Chaos auf einen Stapel gepackt. Die Geschichten selbst hat er alle im Kopf. Und er erzählt sie gerne. Etwa wie DJ Motte nach einem Auftritt den Flieger verpasste, weil er sich im Café Schmid mit dem Bäcker über einem Kuchenrezept verplauderte. "Er hat selber Bäcker gelernt", sagt Manz grinsend. Dann hat er den Mitbegründer der Berliner Loveparade eben einen Flieger später zum Flughafen gefahren.

Seine beiden Kinder sind inzwischen aus dem Haus. Das macht frei und unabhängig. Auch von der Stadt, in der er schon lange lebt. Christoph Manz geht weg, wenn er in Radolfzell keinen Ort mehr findet für seine Musik- und Kneipenideen. "Wenn es die Tanke nicht mehr gibt und mir die Stadt kein erschwingliches Ersatzobjekt bietet, hält mich hier nichts mehr", sagt er. Nüchtern und nicht beleidigt. Tatsache eben. Dann hätte Betongold wirklich gewonnen.

 

Info:

Marcus Gmeineder organisiert am 4. November eine "<link https: www.facebook.com events external-link-new-window><link https: www.facebook.com events external-link-new-window>Demo-Wanderung" in Radolfzell, für den Erhalt der Tanke und für eine lebenswerte Stadt. "Für mehr Raum für Kultur, Kleingewerbe und bezahlbares Wohnen in Radolfzell. Für eine lebendige Innenstadt", so die Forderung. Los geht's um 16 Uhr vom Gerberplatz, vorbei an der Tanke bis zum Rathaus am Marktplatz. Dort ist die Abschlusskundgebung geplant – natürlich mit Musik.


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