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Stuttgarter Kultursparpläne

Verheerend und ungerecht

Stuttgarter Kultursparpläne: Verheerend und ungerecht
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Im Vergleich zur Oper sind sie finanzielle Fliegengewichte: die Stuttgarter Theaterprojekte Gütesiegel Kultur, Citizen Kane Kollektiv und Schaudepot. Sie und 18 weitere kulturelle Initiativen sind nun durch Sparmaßnahmen in ihrer Existenz bedroht.

Fliegen wuseln durch die Schorndorfer Altstadt. Ein 16 Meter großer Kasper beginnt sich aufzublasen. Er kackt auf die Straße. Aufgeregt schwirren die Fliegen um den braunen Haufen herum. Da greift er zur Fliegenklatsche. "Der Kasper schlägt die Fliegen tot" nannte sich der spektakuläre Hauptact des diesjährigen Schorndorfer Straßentheaterfestivals Mitte September.

"Der Kasper schlägt die Fliegen tot" ist eine Produktion von Stefanie Oberhoff und entstand in einer globalen Zusammenarbeit mit Espace Masolo, einem Figurentheaterzentrum für Straßenkinder und ehemalige Kindersoldaten in Kinshasa, Kongo, und der australischen Truppe Snuff Puppets, die auf solche Riesenmarionetten spezialisiert ist und, wie ein Kritiker einmal schrieb, daran arbeitet, schlechten Geschmack ins Extrem zu treiben.

Stefanie Oberhoff arbeitet seit 15 Jahren unter dem Label "Gütesiegel Kultur": ein selbst verliehenes und doch verdientes Prädikat. Wie 20 andere Kultureinrichtungen und Initiativen erhält sie seit vier Jahren eine befristete institutionelle Förderung von der Stadt Stuttgart. Die Befristung läuft Ende diesen Jahres aus – die Arbeit der kleineren Kulturorganisationen ist also gefährdet. Denn die Stadt steckt in einer Haushaltskrise und sucht nach Möglichkeiten, in den fünf bis sechs Milliarden Euro umfassenden Jahreshaushalten knapp eine Milliarde Euro einzusparen. Wo, wird noch diskutiert, bis kurz vor Weihnachten soll der Gemeinderat den Doppelhaushalt 2026/27 beschließen. Sollten die Sparpläne die 21 kleinen Kultureinrichtungen treffen, kämen etwa 2,5 Millionen Euro zusammen, also 0,25 Prozent der angestrebten knappen Einsparmilliarde.

Dabei leisten die Kleinen Großes. "Der Kasper …" wurde im Mai auf dem 24. Internationalen Figurentheaterfestival in Erlangen uraufgeführt, dem wichtigsten seiner Art in Deutschland. Vor zwei Jahren haben Oberhoff und das Festival angefangen, Förderanträge zu schreiben. Denn was leicht aussieht, ist nicht immer einfach. Ein Kran musste gemietet werden, hinter jeder Fliege steckt ein Akteur, 30 Beteiligte waren für zwei Wochen im Hotel unterzubringen. Am nächsten Festival 2027 möchte Oberhoff mit einem "Superheldinnentreffen" teilnehmen. Die aktuelle Förderung aus Stuttgart in Höhe von 50.000 Euro pro Jahr deckt nur 30 Prozent der Kosten. Doch ohne sie kann sie auch keine Bundesmittel beantragen.

Oberhoffs Basislager ist das Figurentheaterzentrum Fitz, das seine Saison am Samstag mit einem großen Fliegenfest eröffnet: diesmal ohne den Kasper, der nicht in den Hof am Tagblattturm passt. Die Jugendkunstschule hat mit Kindern Fliegenkostüme gebastelt. Das Naturkundemuseum gab Einblicke in die Welt der Insekten: Sie haben alle sechs Beine. Spinnen sind keine Insekten. Sollen sie ausgeschlossen werden? "Spinnen welcome" war die spontane Reaktion der Kinder. Zum Fliegenfest organisieren sie eine Demo für Fliegenrechte. Sie sollen nicht totgeschlagen werden.

Theater für junge Menschen und für Solidarität

"Fliegen aus aller Welt kommen nach Stuttgart", heißt es in der Ankündigung des Fitz. "Angezogen von Entzündung, Ausscheidung und Verderben bekommen sie alles mit, was auf der Welt passiert, sie helfen der Natur unermüdlich beim Neustart und sind nicht totzukriegen. Eher im Gegenteil: Unsere Fliegenpopulation führt einen gigantischen Überlebenskampf zum Thema Vielfalt, Diversität und Solidarität."

Das Citizen Kane Kollektiv hat zuletzt mit einem performativen Stadtrundgang Aufmerksamkeit auf die Situation der Wohnsitzlosen gelenkt. Auch in Bukarest hat die Theatertruppe – ausgehend von Georg Büchners "Woyzeck" – einen Stadtrundgang organisiert mit Studierenden der Nationaluniversität der Theater- und Filmkunst. Das Kollektiv ist in Uganda und Kenia aufgetreten, doch in aller Regel spielt es in Stuttgart: am Hafen, im Leonhardsviertel oder in einer ehemaligen Großraumdisko zu Themen wie Pubertät und Prostitution, Coronakrise, Strukturwandel und Solidarität mit marginalisierten Gruppen.

Mit Themen, die unter den Nägeln brennen, spricht Citizen Kane ein junges Publikum an, jenseits des Kulturbürgertums. Am 19. Oktober steht im Hotel Silber eine erneute Lesung aus den Tagebüchern des Ghettos von Łódź auf dem Programm. Das nächste größere Projekt ist eine "Familienfeier", voraussichtlich Ende November. Das Stück handelt von Eltern, die älter werden: Eine Frage, die viele jüngere Menschen betrifft.

Maximilian Sprenger und Christian Müller wissen nicht, wie das Kollektiv die nächsten Jahre überleben soll. "Wir machen einfach weiter", sagt Sprenger, aber: "Die Unsicherheit ist da." Wenn die Stadt die Förderung in Höhe von jährlich 160.000 Euro streicht, bleiben sie auf den Kosten sitzen. Sie könnten Projektmittel, also einmalige Zuschüsse, beantragen wie früher. Aber wie kann das Kulturamt entscheiden, wenn noch gar nicht geklärt ist, ob sie weiter eine befristete institutionelle Förderung erhalten? Zumindest im ersten Halbjahr 2026 wird so wohl eine Finanzierungslücke entstehen. Eine Person aus dem Ensemble ist schon abgesprungen, weil sie die Unsicherheit nicht ertragen konnte.

Inklusiv und international

Bernhard Herbordt und Melanie Mohren vom Schaudepot in Stuttgart Süd haben einmal ein ganzes Dorf in ein Theater verwandelt, ein anderes Mal das Badische Staatstheater in Karlsruhe mit allen Beschäftigten, vom Intendanten bis zur Reinigungskraft, in ein Dorf. Sie haben unter anderem in der Kontext-Redaktion ein Stück ohne Schauspieler aufgeführt, im vergangenen Jahr das Festival der Kulturregion Stuttgart kuratiert und alle ihre Produktionen in einem Schaudepot archiviert, wo man sie sich auf Anfrage oder zu bestimmten Anlässen ansehen kann. Das ist weltweit einzigartig. Derzeit bekommt das Schaudepot von der Stadt 150.000 Euro im Jahr.

Wie Oberhoff und Citizen Kane erreicht auch das Schaudepot ein junges, diverses Publikum. Am Samstag spielten Kinder Werke, die Herbordt und Mohren bei renommierten Komponist:innen im Rahmen der Donaueschinger Musiktage in Auftrag gegeben haben. Anwesend war auch der körperbehinderte Tänzer und Choreograph Michael Turinsky aus Wien. Im Anschluss diskutierten die beiden Leiter der Jungen Oper im Nord, Stuttgart (Join), eine südindische Künstlerin sowie online zugeschaltet ein Regisseur und eine Sängerin aus Salvador de Bahia, Brasilien, über die Zukunft der Oper.

Die Oper wird gepampert

Während die Kleinen um ihre Existenz bangen, fließen viele Millionen in die Stuttgarter Oper. Am vergangenen Donnerstag hat der Gemeinderat einen städtischen Anteil von 63,5 Millionen Euro für den Neubau der Dekorationswerkstätten plus Kulissenlager der Staatsoper bewilligt. Wieviel davon in den Haushalten der kommenden Jahre eingeplant werden muss, steht noch nicht fest, nur dass in den nächsten zwei Jahren insgesamt 5,5 Millionen Euro für die vorbereitenden Maßnahmen anfallen. Die Übergangsspielstätte, das Interim, soll um die 250 Millionen, die Opernsanierung insgesamt weit über eine Milliarde Euro kosten.

Mit 63,5 Millionen Euro könnte die Stadt Gütesiegel Kultur, das Citizen Kane Kollektiv und das Schaudepot 175 Jahre lang finanzieren. Oder 25 Jahre lang alle zwanzig Einrichtungen, denen nun eine Streichung der institutionellen Förderung droht. Ist das Geld so gerecht verteilt?

Das Interim soll so viele Plätze und eine ebenso opulente Ausstattung haben wie die Oper vor und nach der Sanierung. Die Oper spricht ein alterndes, klassisches Bildungsbürgertum an. Junge Menschen erreicht eher das Citizen Kane Kollektiv. Und die Zukunft der Oper wird im Schaudepot besprochen: mit dem Leitungsduo der Jungen Oper zwar, aber nicht an der Oper.

In der Kulturwelt besteht eine Vier-Klassen-Gesellschaft: Die ganz Großen wie die Staatstheater, die mehr als die Hälfte der städtischen Kulturfördergelder einstreichen, haben Tarifverträge, die Gehälter werden regelmäßig an die Preisentwicklung angepasst. Kleinere Institutionen wie der Württembergische Kunstverein und viele andere müssen dagegen bei steigenden Mieten und Unkosten mit einer unveränderten institutionellen Förderung auskommen.

Auf dem letzten Platz stehen alle, die sich von Projekt zu Projekt hangeln – was in vielen Fällen in Ordnung sein mag. Doch wenn die Projekte größer und regelmäßiger werden wie bei Citizen Kane und ähnlichen Gruppen, braucht es Planungssicherheit. Dazu dient die institutionelle Förderung. Alle, die sie ab dem nächsten Jahr trotz anerkannt guter Arbeit möglicherweise nicht mehr bekommen, wissen nun nicht, wie es weitergeht, ob und wie sie in den kommenden Jahren arbeiten können.

Vollends absurd wäre es, an dem kleinen Ausstellungsraum Zero Arts im Stuttgarter Osten zu sparen. 7.000 Euro erhält der Verein jährlich für Miete und Unkosten, wie der Vereinsvorsitzende Jim Zimmermann erklärt. Ein Haushaltsloch von fast einer Milliarde lässt sich so gewiss nicht stopfen.

Zum Vergleich: Für das Public Viewing beim Europacup 2024 hat die Stadt 38,5 Millionen Euro ausgegeben, für die Modernisierung der Haupttribüne des VfB-Stadions einen städtischen Anteil von 79 Millionen bereitgestellt. Am vergangenen Donnerstag hat der Gemeinderat die Entscheidung über die Ausgabe von 951.000 Euro für eine Silvesterparty vertagt.


Info: Das große Fliegenfest am Samstag, 4. Oktober im Fitz, Eberhardstraße 61, beginnt um 17 Uhr. Der Eintritt ist frei. Am 18. Oktober um 15 Uhr gibt es eine weitere Aufführung von "Der Kasper schlägt die Fliegen tot" auf dem Esslinger Rathausplatz. Die Lesung des Citizen Kane Kollektivs aus Tagebüchern des Ghettos von Łódź findet am Mittwoch, 19. Oktober um 15 Uhr im Hotel Silber statt. Zero Arts hat am Freitag eine Ausstellung von Regine Richter eröffnet, zu besichtigen nach Vereinbarung oder bei der Finissage am 17. Oktober, 20 Uhr.

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