Bis zu 26 Leichen am Tag
Unter den Tagebuchschreibern ist Jakub Poznański, in Łódź geborener Chemiker und Apotheker. "Ich habe mich entschlossen, ein Tagebuch über die Tage zu führen, die zu leben uns noch gegeben sind", hält er in seinem ersten Eintrag am 4. Oktober 1941 fest, und er kann auch noch über die Befreiung berichten: "Heute um elf Uhr vormittags kam der ersehnte Augenblick", schreibt er am 19. Januar 1945 und schildert am nächsten Tag ausführlich die Reaktionen der polnischen Bevölkerung und die Ankunft der Roten Armee.
Ein anderer Tagebuchautor ist Oskar Rosenfeld, Wiener Literaturwissenschaftler und Kunsthistoriker, der auch an der Chronik mitwirkte und im Kulturleben des Ghettos eine besondere Rolle spielte. "Zögernd, fast furchtsam fährt die Hand über den ruhelosen Körper", heißt es eindrucksvoll in einem Eintrag, "stößt auf Knochen, Rippen, stößt auf Gebein und entdeckt sich selbst, fühlt plötzlich, dass man noch vor kurzem fetter, fleischiger war, und wundert sich, wie rasch der Leib verfällt."
Im November 1941 treffen an die 20.000 Deportierte aus dem ganzen Reich im Ghetto ein, unter anderem aus Wien, Prag, Berlin, Frankfurt und Köln. Dazu kamen 5.000 Sinti:zze und Rom:nja (das Citizen Kane Kollektiv hat sich entschieden, das Z-Wort nicht zu verwenden). Und im nächsten Monat begann, was euphemistisch als "Aussiedlungen" bezeichnet wurde: Die Bewohner des Ghettos wussten nicht, dass die Abtransportierten ermordet wurden. Die einen machten sich trügerische Hoffnungen, die anderen keine Illusionen. Von den "Ausgesiedelten" hörten sie nie wieder.
In dem nahe gelegenen kleinen Ort Chełmno nad Nerem, von den Deutschen Kulmhof genannt, entstand das erste Vernichtungslager, an dem sich die Kommandanten von Auschwitz, Treblinka, Maidanek und Sobibor orientierten. Über 160.000 Menschen wurden dort vergast, überwiegend Jüd:innen, aber auch Sinti:zze und Rom:nja, soweit sie nicht schon vorher gestorben waren: Am 8. November waren die ersten von ihnen eingetroffen, bis zum 1. Dezember 1941 waren schon 213 verstorben, wie die Chronik vermerkt. Täglich musste die Beerdigungsabteilung ausrücken, um bis zu 26 Leichen mitzunehmen.
Auch Kinder mussten auf den Wagen
Das war noch nicht der Gipfel der Unmenschlichkeit. "Das Getto ist von einem schweren Schmerz getroffen", verkündete Chaim Rumkowski, der Leiter (Präses) des "Judenrats", der jüdischen Ghettoverwaltung, am 4. September 1942: "Man verlangt von ihm, dass es das Kostbarste hergibt, was es besitzt – Kinder und alte Menschen. Auf meine alten Tage muss ich meine Hand ausstrecken und flehen: Brüder und Schwestern, gebt sie mir her! Väter und Mütter, gebt mir eure Kinder."
"Alle fühlten, der Ordnungsdienst werde versagen", schreibt der Chronist Oskar Singer. "Müttern Kinder wegnehmen! Jüdischen Müttern! Längst schon hat der Präses seine O.D.-Männer verhätschelt." Der Ordnungsdienst (O.D.) war die jüdische Polizei des Ghettos. "Um diese Männer aber für diese Aufgabe wetterfest zu machen", so Singer weiter, "hat er ihnen den Schutz des eigenen Kindes gewährt. Sie durften ihre Lieblinge behalten, vorausgesetzt, dass sie alle anderen Kinder aus den Armen der Mütter reißen."
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