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Stimmen aus dem Ghetto Łódź

Das Geschäft mit dem Todesengel

Stimmen aus dem Ghetto Łódź: Das Geschäft mit dem Todesengel
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Antifaschistin Janka Kluge und das Citizen Kane Kollektiv lesen aus den Chroniken und Tagebüchern des Ghettos von Łódź. Nur wenige Bewohner:innen entgingen der Vernichtung. Durch die Lesung werden ihre Erfahrungen wieder lebendig.

Ida Liliom, die Awareness-Beauftragte beim Citizen Kane Kollektiv, liest einleitend Triggerwarnungen vor: "In diesem Stück geht es um Antisemitismus, Antiziganismus, Misogynie, Ableismus, Ageismus." Zudem um: "Klassismus, Rassismus, Diskriminierung, Tod, Suizid, Genozid, Shoah, Krankheit, Medikation, Hunger, Tod und Leid von Kindern, Deportation." Möchte jemand gehen? Keine:r verlässt die Räume des Freien Radios für Stuttgart. Alle sind gekommen, um mehr über das Ghetto von Łódź zu erfahren.

Das Ghetto von Łódź

Wie englisch "wood", gefolgt von einem stimmhaften "sch": So wird der Name der Stuttgarter Partnerstadt Łódź ausgesprochen. Das Ghetto, im Februar 1940 aus der Stadt ausgegrenzt, wurde vor 80 Jahren, im Sommer 1944, aufgelöst. Die verbliebenen Bewohner:innen wurden nach Auschwitz deportiert und fast alle ermordet. Ghetto kann man nach heutiger Rechtschreibung mit (wie im Italienischen) oder auch ohne h schreiben.  dh

Aber wissen wir das alles nicht längst? Keineswegs. 1988, als Stuttgart mit Łódź eine Städtepartnerschaft einging, waren die Texte, aus denen das Citizen Kane Kollektiv liest, auf Deutsch alle noch nicht veröffentlicht. Die Chronik des Ghettos erschien 2007, die verschiedenen Tagebücher zwischen 1994 und 2011 und die "Enzyklopädie des Gettos Lodz/Litzmannstadt" 2020. Das war für Janka Kluge, die die szenische Lesung angestoßen hat und moderiert, der Grund, sich mit dem Ghetto beschäftigen.

Die Aufzeichnungen aus Łódź sind wie Zeitkapseln. Sie wurden geschrieben von Bewohner:innen des Ghettos, um der Nachwelt mitzuteilen, was sich ereignete. Nur 800 überlebten: von 160.000. Indem die Schauspieler:innen Simon Kubat, Nikita Gorbunov und Carina S. Clay mit verteilten Rollen aus den Aufzeichnungen vortragen, leihen sie den Autor:innen ihre Stimmen.

"Wetterlage: 10 Grad unter Null. Windstilles, sonniges Wetter." So beginnt die erste Tageschronik vom 12. Januar 1941, gefolgt von Einträgen zu Sterbefälle und Geburten; Kriminalistik; Selbstmordversuch; Zweite Lebensmittelration auf Karte; Marktpreise von Grundversorgungsartikeln; Erhöhung der Brotration? Damit beginnt die Lesung, bevor die Moderatorin das Wort ergreift.

3.000 Seiten Erinnerung

"Mein Name ist Janka Kluge", führt sie ins Thema ein. "Ich bin Antifaschistin. Seit 50 Jahren beschäftige ich mich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Aber erst durch die Herausgabe der 'Enzyklopädie des Gettos Łódź/Litzmannstadt' Ende 2020 bin ich auf die besondere Geschichte in Stuttgarts Partnerstadt aufmerksam geworden." Zwei Jahre später ist Kluge nach Łódź gereist und hat auch für Kontext berichtet.

Litzmannstadt: So nannten die Nazis Łódź. Nach dem General Karl Litzmann, der im Ersten Weltkrieg 1914 bei Łódź die russische Front durchbrochen hatte. Und den westlichen Teil des besetzten Polen einschließlich Łódź, den sie dem Deutschen Reich zuschlugen, nannten sie Warthegau. 223.000 der 700.000 Einwohner:innen von Łódź waren jüdisch. Die Nazis hätten sie lieber gleich in das sogenannte Generalgouvernement im Osten Polens deportiert. Doch sie wurden als Arbeitskräfte gebraucht.

Friedrich Uebelhoer, der Regierungspräsident des Warthegaus, wird zitiert: "In der Großstadt Lodsch leben meines Erachtens heute ca. 320.000 Juden. Ihre sofortige Evakuierung ist nicht möglich." Die Einrichtung des Ghettos sei nur eine Übergangsmaßnahme. "Zu welchen Zeitpunkten und mit welchen Mitteln das Ghetto und damit die Stadt Lodsch von Juden gesäubert wird, behalte ich mir vor. Endziel muss jedenfalls sein, dass wir die Pestbeule restlos ausbrennen."

Das ist die Sprache der Täter. Die Aufzeichnungen aus dem Ghetto sprechen eine andere Sprache. Die Chronik, veröffentlicht in fünf Bänden, hält auf mehr als 3.000 Seiten die täglichen Ereignisse fest, anfangs in polnischer, dann auch in deutscher Sprache. Die Autoren waren Journalisten und Schriftsteller, die im Ghetto lebten, darunter eine einzige Frau, Alice de Buton, in Berlin geboren, von Wien aus nach Łódź deportiert. Ergänzend verfassten dieselben Autor:innen auch die Enzyklopädie, um der Nachwelt die Zusammenhänge begreiflich zu machen.

Bis zu 26 Leichen am Tag

Unter den Tagebuchschreibern ist Jakub Poznański, in Łódź geborener Chemiker und Apotheker. "Ich habe mich entschlossen, ein Tagebuch über die Tage zu führen, die zu leben uns noch gegeben sind", hält er in seinem ersten Eintrag am 4. Oktober 1941 fest, und er kann auch noch über die Befreiung berichten: "Heute um elf Uhr vormittags kam der ersehnte Augenblick", schreibt er am 19. Januar 1945 und schildert am nächsten Tag ausführlich die Reaktionen der polnischen Bevölkerung und die Ankunft der Roten Armee.

Ein anderer Tagebuchautor ist Oskar Rosenfeld, Wiener Literaturwissenschaftler und Kunsthistoriker, der auch an der Chronik mitwirkte und im Kulturleben des Ghettos eine besondere Rolle spielte. "Zögernd, fast furchtsam fährt die Hand über den ruhelosen Körper", heißt es eindrucksvoll in einem Eintrag, "stößt auf Knochen, Rippen, stößt auf Gebein und entdeckt sich selbst, fühlt plötzlich, dass man noch vor kurzem fetter, fleischiger war, und wundert sich, wie rasch der Leib verfällt."

Im November 1941 treffen an die 20.000 Deportierte aus dem ganzen Reich im Ghetto ein, unter anderem aus Wien, Prag, Berlin, Frankfurt und Köln. Dazu kamen 5.000 Sinti:zze und Rom:nja (das Citizen Kane Kollektiv hat sich entschieden, das Z-Wort nicht zu verwenden). Und im nächsten Monat begann, was euphemistisch als "Aussiedlungen" bezeichnet wurde: Die Bewohner des Ghettos wussten nicht, dass die Abtransportierten ermordet wurden. Die einen machten sich trügerische Hoffnungen, die anderen keine Illusionen. Von den "Ausgesiedelten" hörten sie nie wieder.

In dem nahe gelegenen kleinen Ort Chełmno nad Nerem, von den Deutschen Kulmhof genannt, entstand das erste Vernichtungslager, an dem sich die Kommandanten von Auschwitz, Treblinka, Maidanek und Sobibor orientierten. Über 160.000 Menschen wurden dort vergast, überwiegend Jüd:innen, aber auch Sinti:zze und Rom:nja, soweit sie nicht schon vorher gestorben waren: Am 8. November waren die ersten von ihnen eingetroffen, bis zum 1. Dezember 1941 waren schon 213 verstorben, wie die Chronik vermerkt. Täglich musste die Beerdigungsabteilung ausrücken, um bis zu 26 Leichen mitzunehmen.

Auch Kinder mussten auf den Wagen

Das war noch nicht der Gipfel der Unmenschlichkeit. "Das Getto ist von einem schweren Schmerz getroffen", verkündete Chaim Rumkowski, der Leiter (Präses) des "Judenrats", der jüdischen Ghettoverwaltung, am 4. September 1942: "Man verlangt von ihm, dass es das Kostbarste hergibt, was es besitzt – Kinder und alte Menschen. Auf meine alten Tage muss ich meine Hand ausstrecken und flehen: Brüder und Schwestern, gebt sie mir her! Väter und Mütter, gebt mir eure Kinder."

"Alle fühlten, der Ordnungsdienst werde versagen", schreibt der Chronist Oskar Singer. "Müttern Kinder wegnehmen! Jüdischen Müttern! Längst schon hat der Präses seine O.D.-Männer verhätschelt." Der Ordnungsdienst (O.D.) war die jüdische Polizei des Ghettos. "Um diese Männer aber für diese Aufgabe wetterfest zu machen", so Singer weiter, "hat er ihnen den Schutz des eigenen Kindes gewährt. Sie durften ihre Lieblinge behalten, vorausgesetzt, dass sie alle anderen Kinder aus den Armen der Mütter reißen."

Janka Kluge hat lange gezögert, ehe sie diese Passagen in die Lesung aufnahm. Schließlich entschied sie sich dafür, denn Singer und andere hatten die Ereignisse notiert, damit die Nachwelt davon erfahre. "Während die jüdische Polizei im II. Revier (…) 'arbeitete'", so beschreibt Singer, "erschienen Herren der Gettoverwaltung und Geheimen Staatspolizei, um die Durchführung der Aktion zu kontrollieren." Sie nahmen die Sache selbst in die Hand. "Bei Kindern wird nicht nach dem Alter gefragt. Kind ist Kind – marsch auf den Wagen! Es wagt keiner aufzumucksen."

Präses Chaim Rumkowski war eine umstrittene Figur. Er muckte nicht auf. Seine Devise lautete: "Unser einziger Weg ist Arbeit." So hoffte er, die Vernichtung hinauszuzögern oder zu umgehen. Selbst noch, als die Kinder in den Tod geschickt wurden, redete er sich ein, die Nazis von 24.000 auf 20.000 Opfer heruntergehandelt zu haben. Er habe "mit dem Todesengel ein gutes Geschäft gemacht", heißt es dagegen in "Rumkowski, Chaim", der "inoffiziellen Hymne des Ghettos" von Yenkele Herzkowicz: "Er soll ihm immer mehr Leichen besorgen. Er soll sie ihm besorgen Tag und Nacht."

Mehr als eine Lesung

Zu den Besonderheiten der Aufführung gehört, dass nicht nur die originalen Texte gelesen, sondern auch Farbfotos gezeigt werden, die Walter Gennewein, Leiter der Finanzverwaltung des Ghettos, angefertigt hat. Mitarbeiter:innen des Jüdischen Museums in Frankfurt entdeckten sie 1987 in einem Antiquitätengeschäft und stellten sie 1990 erstmals aus. Und es sind Lieder von Yenkele Herszkowicz zu hören, nicht von ihm selbst gesungen, aber kurz nach dem Krieg aufgenommen von Musikern, die ihn im Ghetto selbst gehört hatten.

Herszkowicz war ungeheuer populär. Denn er sprach aus, was viele Menschen dachten. Er überlebte das Ghetto und schied 1972 durch Suizid aus dem Leben. "So’s Gott wird geben", heißt es in dem Lied "Amerika hat erklärt", "werden alle Juden nach dem Land Israel gehen." Und weiter: "Wir haben schon Flugzeuge, jüdisches Militär, Kugeln, Büchsen und Artillerie und Maschinengewehr."

"Wir müssen dafür kämpfen, dass sich Geschichte nicht wiederholt", betont Janka Kluge am Ende. Schließlich haben die Menschen in Łódź die Geschehnisse im Ghetto deshalb in allen Details festgehalten, damit wir sie nicht vergessen.


Nach derzeitigem Stand soll die Lesung Anfang 2025 im Hotel Silber wiederholt werden, später wahrscheinlich auch im Jüdischen Museum in Frankfurt und, so sich Geldgeber für eine Übersetzung finden, auch in Łódź.

Am Donnerstag, 1. August um 19 Uhr ist das Citizen Kane Kollektiv erstmals im Utopia Kiosk im Züblin-Parkhaus zu Gast mit einem Kurzfilm und Gesprächen mit zwei Brüdern, von denen einer in der Letzten Generation engagiert ist.

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