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Entwicklungshilfe

Entwicklungsland Deutschland

Entwicklungshilfe: Entwicklungsland Deutschland
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Die Gelder für Entwicklungshilfe werden auch 2024 sinken. Ein großer Fehler, warnen Organisationen für humanitäre Hilfe. Und merken an, dass Deutschland sich selbst einen großen Batzen Hilfsgelder auszahlt, die eigentlich für Schulen und Projekte gegen Genitalverstümmelung vorgesehen sind.

Der Rotstift, mit dem vergangene Woche Mitarbeitende von mehr als 30 Organisationen für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit vor dem Bundeskanzleramt in Berlin demonstrierten, war zwölf Meter lang. Schon im dritten Jahr in Folge wird das Geld für Entwicklungszusammenarbeit gekürzt. In diesem Jahr wurde der Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Vergleich zum Vorjahr um 7,6 Prozent gekürzt, der Etat des Auswärtigen Amtes sogar um 17,6 Prozent. Für das kommende Jahr 2025 sollen nochmal 1,3 Milliarden Euro gestrichen werden.

Die Proteste der Hilfsorganisationen verhallen trotz aufblasbarem Rotstift-Ballon ungehört. Der Blick der Öffentlichkeit ist längst anderswohin gerichtet. Nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs, steigenden Energiepreisen, Inflation und Teuerung geht es immer stärker um das persönliche Wohlbefinden. Wozu so viel Geld in den globalen Süden schicken? Angesichts zunehmender Probleme im eigenen Land?

Jede Verzögerung bei "Zero Hunger" kostet

Dabei warnen Hilfsorganisationen eindringlich vor dieser Sichtweise: "Kürzungen von heute sind die Krisen von morgen", schreiben die Welthungerhilfe und die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes in ihrem 31. Bericht, den sie kürzlich vorgelegt haben. Titel: "Kompass – Zur Wirklichkeit der deutschen Entwicklungspolitik". Danach sind die dringend benötigten Mittel für Ernährungssicherung und ländliche Entwicklung 2023 um ganze 32 Prozent zurückgegangen.

Angesichts von mehr als 280 Millionen Menschen, die aktuell akut an Hunger leiden, bedeutet das, dass die UN-Nachhaltigkeitsziele zur Beendigung von Hunger und Armut nicht erreicht werden. In diesem Zusammenhang verweisen die beiden Hilfsorganisationen auf neueste Berechnungen, die zeigen, dass "jede Verzögerung beim Erreichen von 'Zero Hunger' bis 2030 zu massiven Kostensteigerungen führt". Gingen Experten 2020 noch davon aus, dass etwa 30 Milliarden Euro nötig sind, um den Hunger weltweit zu beenden, liegen die Schätzungen heute bei mehr als dem Dreifachen: bei 93 Milliarden.

Erstaunlich dabei ist nicht, dass von 45 Ländern, die auf ständige Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind, laut Welthungerhilfe 33 in Afrika sind. Die Organisationen kritisieren, dass die Leistungen für die ärmsten Staaten auch in diesem Jahr die im Ampel-Koalitionsvertrag anvisierte Marke von 0,2 Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts verfehlen. Sie erreichen gerade einmal rund 0,1 Prozent. Nicht besser sieht es in den europäischen Nachbarländern aus.

Sparpolitik trifft vergessene Krisen besonders hart

Åsa Månsson, Geschäftsführerin von Venro, dem Dachverband für Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe, beschreibt die Konsequenzen der Sparpolitik. Eine Umfrage unter den knapp 150 Mitgliedsorganisationen zeige, dass die Kürzungen die zivilgesellschaftliche Arbeit in mindestens 40 Ländern treffen. Besonders stark wirke sich dies in Ländern mit sogenannten vergessenen Krisen aus: in Angola, Burundi, dem Partnerland von Baden-Württemberg, Burkina Faso oder der Demokratischen Republik Kongo.

Das weiß auch Martin Kessler, Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe. So gebe es für Hilfsprojekte in von Bürgerkrieg betroffenen Ländern wie Somalia kaum Spendenmittel. Allein die Mittel der Bundesregierung haben es zum Beispiel ermöglicht, dass Medikamente für von Hunger und Krankheit bedrohte Kinder geliefert werden konnten. Auch im "Kompass" wird die Bedeutung von staatlichen Ländern für vergessene Krisen in Myanmar, im Sudan oder im Jemen hervorgehoben.

Für Åsa Månsson ist klar: "Wenn die Organisationen die Arbeit vor Ort einstellen müssen, dann fehlt es beispielsweise dem Jugendlichen in Burkina Faso an Bildungsmöglichkeiten, an einer Perspektive. Ihm bleibt dann die Flucht vor Armut oder die Arbeit für Terrororganisationen – die zahlen 300 Euro pro Monat." Das seien die Auswirkungen, die Venro von Mitgliedern vor Ort berichtet werden, fügt Månsson hinzu.

Weniger Hilfe für die Ärmsten

Seit Langem wirft der Dachverband einen kritischen Blick auf die staatlichen ODA-Mittel (Official Development Assistance – öffentliche Mittel für Entwicklungsleistungen). In ihrem "Kompass" beklagen die Welthungerhilfe und Terre des Femmes, dass die deutschen ODA-Mittel erstmals seit 2019 gesunken seien. Dass die insgesamt von den Geberländern zur Verfügung gestellten Mittel mit dem wachsenden Bedarf angesichts vielfältiger Krisen  – von den nicht überwundenen Folgen der Corona-Pandemie über Kriege und verteuerte Nahrungsmittel bis zu den immer gravierender werdenden Folgen des Klimawandels – ohnehin schon nicht Schritt halten können, kritisieren die Organisationen entschieden. So seien die ODA-Mittel aller Geberländer gegenüber 2022 nur um bescheidene 1,8 Prozent gewachsen, heißt es im "Kompass". Dies sei auf die gewachsene Unterstützung für die Ukraine zurückzuführen, heißt es weiter. Die deutsche ODA war 2023 mit insgesamt 33,9 Milliarden Euro real um 5,8 Prozent niedriger als im Vorjahr.

ODA-Mittel dienten auch zur Stärkung der Reputation von Regierungen, ist Lukas Goltermann, bei Venro Referent für die Stärkung der Zivilgesellschaft, sich sicher. Wenn sich Deutschland weltweit auch als der viertgrößte Geber positioniert hat, offenbaren die ODA-Zahlen für Goltermann einen besorgniserregenden Trend: Während die Regierungen immer höhere Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit geltend machen, kommen immer weniger Mittel bei den ärmsten Menschen an, erläutert der Experte.

Er hat die offiziell bestätigten Zahlen der OECD für 2022 genau unter die Lupe genommen. Danach werden von Bund und Ländern vermehrt Unterbringungskosten für Geflüchtete als Entwicklungsausgaben geltend gemacht, ein Anteil von etwa 15 Prozent der ODA-Mittel. Auch die Studienplatzkosten für Studierende aus dem globalen Süden werden oft zu den ODA-Mitteln gezählt, zumindest in Deutschland. Das sei, sagt Goltermann, ein "Rechentrick", durch den Deutschland zum größten Empfängerland seiner eigenen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit geworden ist. Rund 6,3 Milliarden US-Dollar, also rund 20 Prozent der ODA-Mittel, bleiben so im eigenen Land.

Die aktuell vorgesehenen Kürzungen betreffen diese im Inland verwendeten Mittel allerdings nicht. Sondern die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, die Kernbereiche der humanitären Arbeit betreffen. Die Ernährungssicherung macht allen Hilfsorganisationen große Sorgen. Im "Kompass" werden mehr Mittel für Klimaanpassungsmaßnahmen sowie Bewässerung in der Landwirtschaft zur Erhöhung der Resilienz gegen den Klimawandel gefordert. Psychosoziale Unterstützung in der humanitären Hilfe sowie Projekte gegen Genitalverstümmelung sehen die Organisationen ebenfalls gefährdet.

Ohnehin ist die Arbeit nach Angaben der Welthungerhilfe schwieriger und komplexer geworden. So seien manche Gebiete in Mali, im Niger oder in Burkina Faso wegen der Terrorgefahr nur mit dem Flugzeug zu erreichen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind dort den Angaben zufolge Kinder. Jedes zweite Kind von etwa 2,5 Millionen Kindern in der Sahelzone könne nicht zur Schule gehen. Und die Menschen ohne Bildung würden erfahrungsgemäß eher den Weg zu bewaffneten Gruppen suchen, heißt es im Bericht. Vor dem Hintergrund von Angriffen auf Schulen und Krankenhäuser und sexueller Gewalt plädieren die Organisationen für mehr Hilfe, um zukünftige Probleme zu verhindern.

Entwicklungsarbeit anfällig für populistische Kritik

Entgegen des immer noch vorherrschenden Bildes von Afrika als Hilfeempfänger fordern Hilfsorganisationen von der Bundesregierung ein anderes Afrikakonzept und vor allem eine Abstimmung zwischen den Bundesministerien, die bisher jeweils ihre eigene Strategie verfolgen. Afrika müsse vielmehr als Kontinent der Chancen gesehen werden, in den Investitionen fließen, bestens in Abstimmung mit Strategien der Afrikanischen Union. "Mit einer Stimme sprechen, klare Angebote mit klarem Profil machen", lautet die Forderung.

Nicht nur die Welthungerhilfe und Terre des Hommes beobachten mit Sorge, dass die Diskussion in der Bevölkerung gegenüber der Entwicklungsarbeit zunehmend kritisch verläuft, befeuert von AfD, CDU und CSU. Ein Beispiel sind die viel zitierten Radwege in Peru. Ein AfD-Abgeordneter hatte die aus der Luft gegriffene Zahl von 315 Millionen Euro für dieses Projekt in Umlauf gebracht. Was gelogen war, aber als Kritik hängengeblieben ist und sich verbreitet. Dabei handelt es sich insgesamt um 199 Millionen Entwicklungshilfe, die in ein Radwegenetz und ein Bussystem geflossen sind, teils als Kredite.

Angesichts der Vielfalt der Projekte sei Entwicklungsarbeit anfällig für populistische Kritik, sagt Goltermann. Irgendwer finde immer etwas, was ihm nicht passe. Und tatsächlich: Einzelne Aspekte ohne Hintergrundwissen aus dem Gesamtzusammenhang gerissen können durchaus eigenartige Züge annehmen.

Gegen die Schneckenhaus-Mentalität

Angesichts der Kürzungen klingen die Äußerungen des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von Svenja Schulze (SPD) wie Hohn: "Mit jedem Euro, mit dem wir heute weltweit Gesellschaften krisenfester machen, sparen die Steuerzahlenden laut Weltbank-Berechnungen später vier Euro an humanitärer Nothilfe", heißt es in einer Mitteilung. Ob Stadtentwicklung in Namibia oder Zentren für Migration in Ghana – wenn sich die Lage in den Ländern verbessere, gebe es auch weniger Gründe für eine Flucht, sagt das Ministerium, das auch wirtschaftliche Argumente nennt: "Jeder zweite Euro wird mit Export verdient. Wenn Deutschland ein starkes Exportland bleiben will, können wir uns keine Schneckenhaus-Mentalität erlauben".

Die Welthungerhilfe weist dagegen ausdrücklich darauf hin, dass die Förderung in den Bereichen Bildung, Klimaschutz oder Hungerbekämpfung gerade in fragilen Staaten vor allem friedensfördernd sei. Auch nach Einschätzung von Beobachtern sind Erfolge der Entwicklungszusammenarbeit unbestritten. "Entwicklungszusammenarbeit hat etwa den Zugang zu Bildung verbessert, positive, wenn auch kleine Wirkungen auf das Demokratieniveau von Staaten gezeitigt oder zur Verringerung von Kindersterblichkeit in Afrika beigetragen", sagt Jörg Faust vom Deutschen Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit (DEval).

Trotz der Erfolge habe man auch viele Fehler gemacht, räumt Faust ein. "Im Hinblick auf die Zusammenarbeit, Synergien und Arbeitsteilung zwischen den Ressorts wie auch auf internationaler Ebene besteht noch einiges an Verbesserungspotenzial." Dazu gehört für ihn, dass neue Technologien unterstützt werden, die auch für Europa und Deutschland wichtig sind. Ein Beispiel sind Frühwarnsysteme gegen Naturkatastrophen. Laut Ministerium werden in diesem Jahr 11,1 Milliarden Euro für verschiedenen solcher Projekte ausgegeben – genau eine Milliarde weniger als noch ein Jahr zuvor.

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2 Kommentare verfügbar

  • Gerd Rathgeb
    am 25.07.2024
    Antworten
    ...und mehr als das Doppelte fürs Militär.

    ...sie reden von Bekämpfung der Fluchtursachen und kürzen die Mittel dafür.
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Ausgabe 709 / Bedeckt von braunem Laub / bedellus / vor 1 Tag 20 Stunden
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