KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Alexander Roob über grafischen Journalismus

Die Vorhut der Avantgarden

Alexander Roob über grafischen Journalismus: Die Vorhut der Avantgarden
|

Datum:

Ehe Zeitungen und Zeitschriften mit Fotos illustriert wurden, war dies die Aufgabe von Pressegrafikern. Der Blütezeit des vielgestaltigen Genres hat Alexander Roob, ehemaliger Professor an der Stuttgarter Kunstakademie, einen prachtvollen Überblicksband gewidmet – der auch für einige Überraschungen sorgt.

Zurück Weiter

Gleich werden die Fäuste fliegen. Zwei muskulöse Männer stehen sich im Boxring gegenüber, noch in der Phase des Sich-Abtastens. Am Rand des Rings sitzen und knien ihre Betreuer, dahinter drängt sich eine vielköpfige Menge. Ein Bild, das die vibrierende Spannung ahnen lässt, gezeichnet 1860 vom gerade mal 20-jährigen Thomas Nast, der für die Zeitschrift "New York Illustrated News" als Bildkorrespondent vor Ort ist – oder, wie es damals heißt, als "special artist", kurz "special".

Große Sport-Events ziehen, das war schon vor 163 Jahren so. Als sich 1860 im britischen Farnborough der Brite Thomas Sayers und der US-Amerikaner John C. Heenan bei den weltweit ersten Boxweltmeisterschaften gegenüberstehen, war das nicht nur ein internationales Presse-Ereignis, sondern auch "der Auftakt zur triumphalsten Karriere des Pressegrafikzeitalters".

Und wenn sich jetzt viele Leserinnen und Leser fragen, wer bitte ist Thomas Nast?, dann ist das nur einer von vielen Gründen, warum "The History of Press Graphics" von Alexander Roob ein überfälliger Lückenfüller ist. Roob, 1956 geboren, lehrte von 2002 bis 2022 an der Stuttgarter Kunstakademie Freie Grafik und Malerei, ist selber Künstler und Comiczeichner. Für graphischen Journalismus interessiert er sich schon lange, 2005 gründete er das "Melton Prior Institute for Reportage Drawing & Printing Culture", das sich dessen Erforschung widmet. Sein jüngst beim Taschen Verlag erschienenes Buch ist nun eine Art Kondensat dieser Forschungen, ein sehr gehaltvolles.

Thomas Nast ist einer von unzähligen Künstlern, die in dem Buch immer wieder auftauchen. 1840 im pfälzischen Landau geboren, wandert er im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern in die USA aus. Nasts grafische Karriere beginnt schon 1855 bei dem illustrierten Nachrichtenblatt "Frank Leslie’s Illustrated Newspaper", doch als er 1860 für die "New York Illustrated News" über den Boxkampf berichten soll, bleibt er gleich in Europa und berichtet über Guiseppe Garibaldis Einzug in Neapel. Das mehrt seinen Ruhm, der im 1861 beginnenden US-Bürgerkrieg weiter wachsen soll. Nasts Kriegsbilder sind dabei oft eher actionreiche Phantasien, die der Sache der Nordstaaten dienen sollen. Weswegen Präsident Abraham Lincoln ihn auch als seinen "besten Rekrutierungsoffizier" bezeichnet.

Nach dem Bürgerkrieg wendet er sich verstärkt der Karikatur zu, und anfangs ist sein Stil noch hölzern-statisch, an den konservativen britischen Starzeichner John Tenniel vom Londoner "Punch" erinnernd. Doch nach und nach entwickelt er einen eigenen Stil, der mit seinen dicken umrandenden Linien zu feinen Schraffuren ein wenig an den über 100 Jahre jüngeren Comiczeichner Robert Crumb erinnert. Zur Grafik-Ikone wird er schließlich in den 1870ern, als seine karikaturistische Kampagne gegen den korrupten New Yorker Senator und Stadtrat William Tweed mit dazu führt, dass dieser angeklagt wird und aus dem Land flieht. Nasts Karikaturen – die berühmteste zeigt Tweed mit einem Geldsack anstelle des Kopfes – sind viel wirkungsvoller als die Textbeiträge der Presse. "Kein visueller Künstler der Neuzeit war politisch einflussreicher als dieser Cartoonist, der von den radikalrepublikanischen Idealen der 1848er-Revolutionen geprägt war", schreibt Roob.

Pressegrafik prägt das Bewusstsein

Nasts Karriere ist ein Musterbeispiel, wie vielseitig im 19. Jahrhundert die Arbeit als Pressegrafiker sein konnte, wie schwer auf ein einzelnes Genre festzulegen. Sie konnte sowohl dokumentarisches als auch humoristisches und karikaturistisches Zeichnen umfassen und sich bis hin zu Science-Fiction- und Fantasy-Illustrationen erstrecken. Aber genau das ist auch das Problem.

"Eine Illustrationshistorie, die es gewohnt ist, Bildjournalismus und Karikatur als separate Genre zu behandeln, ignoriert (…) diese Überschneidungen", schreibt Roob. Dazu kommt: "Die Vorzüge der Pressegrafik – ihre Aktualität und Diversität – standen einer Überblicksdarstellung bislang eher im Weg. Im hierarchischen Ordnungssystem der Kunstgeschichte, das (...) am platonischen Ewigkeitsideal ausgerichtet ist, wies man ihr die unterste Schublade der Ephemera, der minderwertigen Eintagsobjekte, zu und vergaß sie dort." Und auch die Kulturwissenschaft, die Pressegrafik als Forschungsobjekte ernst nimmt, habe die verschiedenen Zweige der Pressegrafik "thematisch filetiert" und dadurch Entwicklungszusammenhänge ignoriert. Karikatur-, Fotografie- oder Comichistoriker würden oft ihre Spezialbereiche herauslösen und dann auch noch unter nationalen oder regionalen Gesichtspunkten betrachten – ungeachtet internationaler und stilistischer Vernetzungen.

Genau das will Roob nicht. Und so ist seine Überblicksdarstellung ein immer wieder neues Plädoyer für eine integrierte Betrachtung der bislang oft separierten Genres. Er will den Blick schärfen für Verbindungen und Wechselwirkungen, die nicht nur zwischen den verschiedenen grafischen Genres bestanden, sondern auch zwischen ihnen und der bildenden Kunst oder der Literatur. Ganz zu schweigen von den Wechselwirkungen mit der Politik: Bestimmte politische Zustände oder Ereignisse beförderten Entwicklung der Pressegrafik, deren Werke wiederum Auswirkungen auf die Politik haben konnten – siehe Nasts Anti-Tweed-Kampagne – oder auf die Gesellschaft. Nicht immer die besten: Da die Blütezeit der Pressegrafik auch die Hochphase des europäischen Imperialismus und Nationalismus war, wurde viele der rassistischen und sozialen Stereotype, die diese Epoche prägten (und zum Teil bis heute bestehen) von der Pressegrafik geprägt.

Fünf Kilo über die goldene Zeit

Roob will die vielen Facetten der Pressegrafik in ihrer Blütezeit von 1819 bis 1921 nicht nur beschreiben, sondern auch zeigen: Auf den rund 600 Seiten sind mehr als 700 Abbildungen versammelt, oft großformatig. Und das bedeutet im verwendeten Folio-Format (Höhe: 37 cm) wirklich groß, so dass selbst feinste Details sichtbar sind. Die Druckqualität ist phantastisch, allein deswegen ist der Band für grafisch Interessierte eine Offenbarung, mag sein stolzes Gewicht von knapp fünf Kilo die Handhabung auch bisweilen herausfordernd gestalten.

Roobs Untersuchungszeitraum beginnt im 19. Jahrhundert, und das sowohl wegen technischer als auch politischer Gründe: Zum einen bringt die Industrialisierung enorme Fortschritte im Druckereiwesen, zum anderen befördern soziale und politische Konflikte die Entstehung eines neuen Bildjournalismus, und zwar eines anfangs vor allem satirischen. 1819 veröffentlichen der Autor William Hone und der Karikaturist George Cruikshank als Reaktion auf das Peterloo-Massaker, eine blutig niedergeschlagene Arbeiterdemonstration in Manchester, das Pamphlet "The Political House that Jack built". Um Cruikshanks Karikaturen darin in hoher Auflage drucken zu können, wird die schon länger entwickelte Technik des Holzstichs angewandt – erstmals in der Massenpublizistik.

Deswegen setzt Roob hier, 1819, den Beginn der "Goldenen Zeit" des grafischen Journalismus an, eine schlüssige und vertretbare Einteilung. Wenn auch nicht die einzig denkbare – das erste regelmäßig erscheinende illustrierte Periodikum ist die französische Satirezeitschrift "La Caricature", die der geniale Verleger Charles Philippon 1830 auf den Markt bringt – auch hier mit klarem politischen Impetus, dem Kampf gegen das Regime von König Louis Philippe. Honoré Daumier hat hier seine ersten Auftritte, doch nach wenigen Jahren beendete Philipon das latent von der Zensur bedrohte Blatt schon wieder. Bereits 1832 hat er die Zeitschrift "Le Charivari" gegründet, auch sie von Karikaturen geprägt, aber politisch weit weniger radikal. Enorm einflussreich wird sie trotzdem – so nennt sich das 1841 gegründete britische Satiremagazin "Punch" jahrzehntelang in der Unterzeile "The London Charivari".

Fotografie war noch zu langsam

Dieses Satireblatt wirkt dann wieder auf die Entwicklung der Reportage- und Dokumentationsgrafik zurück: Vom Erfolg des "Punch" ermutigt, startet der Verleger Herbert Ingram 1842 mit den "London Illustrated News" die erste Nachrichtenillustrierte in Großauflage.

In den 1850er Jahren beginnen dann Karikatur und Pressegrafik, sich allmählich auseinanderzubewegen, und der Krimkrieg (1853-1856) bedeutet vor allem für letztere einen Boom. Zwar ist die Fotografie damals schon erfunden und kommt an der Front auch zum Einsatz, aber eine Konkurrenz ist sie wegen langer Belichtungszeiten noch nicht – die Pressegrafik hat den Vorteil, Handlung wiedergeben zu können, und zudem ist sie noch in der Massenpresse leichter reproduzierbar.

Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts wird dann sowohl für Karikatur wie Pressegrafik eine glanzvolle Epoche. Was erstere angeht, wird nach England wieder Frankreich, vor allem Paris, zum Zentrum der progressivsten Entwicklungen, unzählige Zeitschriften und eine enorme Vielfalt der Richtungen entwickeln sich. Das gilt im Grunde auch für die Pressegrafik, doch was sie betrifft, entstehen die meisten neuen und innovativsten Medien in den USA – auch die Sensationspresse nimmt hier in diesen Jahren ihren Anfang, ebenso der Comic. Neue Reproduktionsverfahren ermöglichen neue grafische Stile, neben betont skizzenhaften stehen fast fotorealistischen Darstellungen. Nüchtern dokumentarische Illustrationen wie die des Briten Melton Prior stehen eher theatrale Darstellungen eines Richard Caton Woodville Jr. gegenüber. Nicht zuletzt die Dokumentation der schwindelerregenden und faszinierenden Vielgestaltigkeit der Pressegrafik dieser Jahre macht Roobs Buch zu einem visuellen Erlebnis – und zu einem Pionier- und Standardwerk. Denn sorgfältig gestaltete Karikaturenbände, die diese Epoche abdecken, finden sich zwar schon einige, doch für die Pressegrafik gilt dies bislang vor allem in Deutschland noch nicht.

Frühe Surrealisten und Expressionisten

Bemerkenswert sind aber auch die vielen aufgezeigten Querverbindungen und Wechselwirkungen zwischen Grafik und anderen künstlerischen Genres. Und nicht selten gab dabei die von der Kunstgeschichte oft stiefmütterlich behandelte Pressegrafik die Impulse. Der von Zeitdruck geprägte Stil der frühen Bildjournalisten etwa beeinflusste die Künstler des Impressionismus, der anklagende Sozialrealismus in manchen Werken von "La Caricature" nimmt in den frühen 1830ern vorweg, was der Maler Gustave Courbet rund 20 Jahre später auf großer Leinwand umsetzt, und manche Ilustrationen der jungen Boulevardpresse kündigen Ende des 19. Jahrhunderts schon die Phantasmen des Surrealismus an.

Deswegen ist Roob auch der Meinung, dass "aus illustrationshistorischer Sicht (…) kein Urknall der Moderne nach den Weltkriegen auszumachen" war. Im Gegenteil: Die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts stellen sich laut ihm "als eine Art Nachhut des Zeitalters der Pressegrafik heraus." Sie war die wahre Avantgarde.

Augen öffnend ist dabei ein Kapitel zu Vincent van Gogh. Der war, was wenig bekannt ist, auch ein leidenschaftlicher Sammler von Pressegrafik, rund 1.500 Blätter macht seine daraus entstandene "Künstlerbibel" aus, die er auch als Inspiration für eigene Werke nutzte. So gehen die dynamischen Wirbel in seinen Bildern vermutlich auf Darstellungen aus Pressegrafikern wie Joseph Swan zurück. "Mir ist erst langsam klar geworden, dass Van Gogh eigentlich ein Grafik-Spezialist gewesen ist", sagt Roob. "Er war ein sehr analytischer Seher" – das widerspreche ganz dem gängigen Van-Gogh-Bild, das seine expressive Malweise oft mit psychischen Erkrankungen erkläre.

Mit auch potentiell kontroversen Wertungen hält sich Roob ohnehin nicht zurück. Aus seiner Abneigung gegen Honoré Daumier, den er nach fulminanter Frühphase bald eher einfallslos und zudem politisch reaktionär findet, macht er kein Hehl. "Daumier halte ich für etwas überschätzt", sagt er gegenüber Kontext. Weit mehr schätzt er spätere französische Zeichner wie André Gill oder Gustave Doré. Und ganz besonders Thomas Nast. "Ich habe schon diese Beziehung zu Nast", sagt Roob, "vielleicht auch, weil ich wie er aus der Pfalz komme." Roob wuchs wenige Kilometer von Nasts Geburtsort Landau entfernt auf. Offenbar eine gute Gegend für Grafik.


Alexander Roob: "History of Press Graphics. 1819–1921", Taschen Verlag, 604 Seiten, 60 Euro.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!