Thomas Nast ist einer von unzähligen Künstlern, die in dem Buch immer wieder auftauchen. 1840 im pfälzischen Landau geboren, wandert er im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern in die USA aus. Nasts grafische Karriere beginnt schon 1855 bei dem illustrierten Nachrichtenblatt "Frank Leslie’s Illustrated Newspaper", doch als er 1860 für die "New York Illustrated News" über den Boxkampf berichten soll, bleibt er gleich in Europa und berichtet über Guiseppe Garibaldis Einzug in Neapel. Das mehrt seinen Ruhm, der im 1861 beginnenden US-Bürgerkrieg weiter wachsen soll. Nasts Kriegsbilder sind dabei oft eher actionreiche Phantasien, die der Sache der Nordstaaten dienen sollen. Weswegen Präsident Abraham Lincoln ihn auch als seinen "besten Rekrutierungsoffizier" bezeichnet.
Nach dem Bürgerkrieg wendet er sich verstärkt der Karikatur zu, und anfangs ist sein Stil noch hölzern-statisch, an den konservativen britischen Starzeichner John Tenniel vom Londoner "Punch" erinnernd. Doch nach und nach entwickelt er einen eigenen Stil, der mit seinen dicken umrandenden Linien zu feinen Schraffuren ein wenig an den über 100 Jahre jüngeren Comiczeichner Robert Crumb erinnert. Zur Grafik-Ikone wird er schließlich in den 1870ern, als seine karikaturistische Kampagne gegen den korrupten New Yorker Senator und Stadtrat William Tweed mit dazu führt, dass dieser angeklagt wird und aus dem Land flieht. Nasts Karikaturen – die berühmteste zeigt Tweed mit einem Geldsack anstelle des Kopfes – sind viel wirkungsvoller als die Textbeiträge der Presse. "Kein visueller Künstler der Neuzeit war politisch einflussreicher als dieser Cartoonist, der von den radikalrepublikanischen Idealen der 1848er-Revolutionen geprägt war", schreibt Roob.
Pressegrafik prägt das Bewusstsein
Nasts Karriere ist ein Musterbeispiel, wie vielseitig im 19. Jahrhundert die Arbeit als Pressegrafiker sein konnte, wie schwer auf ein einzelnes Genre festzulegen. Sie konnte sowohl dokumentarisches als auch humoristisches und karikaturistisches Zeichnen umfassen und sich bis hin zu Science-Fiction- und Fantasy-Illustrationen erstrecken. Aber genau das ist auch das Problem.
"Eine Illustrationshistorie, die es gewohnt ist, Bildjournalismus und Karikatur als separate Genre zu behandeln, ignoriert (…) diese Überschneidungen", schreibt Roob. Dazu kommt: "Die Vorzüge der Pressegrafik – ihre Aktualität und Diversität – standen einer Überblicksdarstellung bislang eher im Weg. Im hierarchischen Ordnungssystem der Kunstgeschichte, das (...) am platonischen Ewigkeitsideal ausgerichtet ist, wies man ihr die unterste Schublade der Ephemera, der minderwertigen Eintagsobjekte, zu und vergaß sie dort." Und auch die Kulturwissenschaft, die Pressegrafik als Forschungsobjekte ernst nimmt, habe die verschiedenen Zweige der Pressegrafik "thematisch filetiert" und dadurch Entwicklungszusammenhänge ignoriert. Karikatur-, Fotografie- oder Comichistoriker würden oft ihre Spezialbereiche herauslösen und dann auch noch unter nationalen oder regionalen Gesichtspunkten betrachten – ungeachtet internationaler und stilistischer Vernetzungen.
Genau das will Roob nicht. Und so ist seine Überblicksdarstellung ein immer wieder neues Plädoyer für eine integrierte Betrachtung der bislang oft separierten Genres. Er will den Blick schärfen für Verbindungen und Wechselwirkungen, die nicht nur zwischen den verschiedenen grafischen Genres bestanden, sondern auch zwischen ihnen und der bildenden Kunst oder der Literatur. Ganz zu schweigen von den Wechselwirkungen mit der Politik: Bestimmte politische Zustände oder Ereignisse beförderten Entwicklung der Pressegrafik, deren Werke wiederum Auswirkungen auf die Politik haben konnten – siehe Nasts Anti-Tweed-Kampagne – oder auf die Gesellschaft. Nicht immer die besten: Da die Blütezeit der Pressegrafik auch die Hochphase des europäischen Imperialismus und Nationalismus war, wurde viele der rassistischen und sozialen Stereotype, die diese Epoche prägten (und zum Teil bis heute bestehen) von der Pressegrafik geprägt.
Fünf Kilo über die goldene Zeit
Roob will die vielen Facetten der Pressegrafik in ihrer Blütezeit von 1819 bis 1921 nicht nur beschreiben, sondern auch zeigen: Auf den rund 600 Seiten sind mehr als 700 Abbildungen versammelt, oft großformatig. Und das bedeutet im verwendeten Folio-Format (Höhe: 37 cm) wirklich groß, so dass selbst feinste Details sichtbar sind. Die Druckqualität ist phantastisch, allein deswegen ist der Band für grafisch Interessierte eine Offenbarung, mag sein stolzes Gewicht von knapp fünf Kilo die Handhabung auch bisweilen herausfordernd gestalten.
Roobs Untersuchungszeitraum beginnt im 19. Jahrhundert, und das sowohl wegen technischer als auch politischer Gründe: Zum einen bringt die Industrialisierung enorme Fortschritte im Druckereiwesen, zum anderen befördern soziale und politische Konflikte die Entstehung eines neuen Bildjournalismus, und zwar eines anfangs vor allem satirischen. 1819 veröffentlichen der Autor William Hone und der Karikaturist George Cruikshank als Reaktion auf das Peterloo-Massaker, eine blutig niedergeschlagene Arbeiterdemonstration in Manchester, das Pamphlet "The Political House that Jack built". Um Cruikshanks Karikaturen darin in hoher Auflage drucken zu können, wird die schon länger entwickelte Technik des Holzstichs angewandt – erstmals in der Massenpublizistik.
Deswegen setzt Roob hier, 1819, den Beginn der "Goldenen Zeit" des grafischen Journalismus an, eine schlüssige und vertretbare Einteilung. Wenn auch nicht die einzig denkbare – das erste regelmäßig erscheinende illustrierte Periodikum ist die französische Satirezeitschrift "La Caricature", die der geniale Verleger Charles Philippon 1830 auf den Markt bringt – auch hier mit klarem politischen Impetus, dem Kampf gegen das Regime von König Louis Philippe. Honoré Daumier hat hier seine ersten Auftritte, doch nach wenigen Jahren beendete Philipon das latent von der Zensur bedrohte Blatt schon wieder. Bereits 1832 hat er die Zeitschrift "Le Charivari" gegründet, auch sie von Karikaturen geprägt, aber politisch weit weniger radikal. Enorm einflussreich wird sie trotzdem – so nennt sich das 1841 gegründete britische Satiremagazin "Punch" jahrzehntelang in der Unterzeile "The London Charivari".
Fotografie war noch zu langsam
Dieses Satireblatt wirkt dann wieder auf die Entwicklung der Reportage- und Dokumentationsgrafik zurück: Vom Erfolg des "Punch" ermutigt, startet der Verleger Herbert Ingram 1842 mit den "London Illustrated News" die erste Nachrichtenillustrierte in Großauflage.
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