In einem Brief vom 17. November 1914 an den deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg wählt Albrecht Rienäcker, deutscher Generalkonsul in Amsterdam, deutliche Worte: "Diese Zeichnungen wirken besonders heftig und vergiftend, zumal sie sich dem Gedächtnis besser einprägen als das gedruckte Wort, und es sich ... um einen Künstler von nicht gewöhnlicher Begabung handelt."
Der Künstler, von dem Rienäcker schreibt, heißt Louis Raemaekers, Karikaturist der Amsterdamer Tageszeitung "De Telegraaf". Seine antideutschen Karikaturen sind nicht nur innerhalb der neutralen Niederlande weit verbreitet, sie zirkulieren wenige Wochen nach Kriegsausbruch auch in den gegen Deutschland kämpfenden Entente-Staaten.
Dabei hat Raemaekers ursprünglich starke Beziehungen zu Deutschland. Geboren 1869 als Sohn einer deutschen Mutter, wächst er im südwestniederländischen Roermond auf, nahe der deutschen Grenze. Seine Haltung zum Nachbarland schlägt um, als im August 1914 die ersten Berichte über deutsche Kriegsverbrechen bei der Invasion des neutralen Belgien bekannt werden. Bis Mitte Oktober töten die deutschen Truppen in Belgien rund 5500 Zivilisten, neben Massakern werden Kulturdenkmäler wie die Bibliothek von Löwen zerstört (mehr dazu im Artikel <link www.kontextwochenzeitung.de/zeitgeschehen/173/faehrte-in-die-apokalypse-2337.html _blank>"Fährte in die Apokalypse"</link>).
Inspiriert von Korrespondentenberichten, fängt Raemaekers an, in seinen Karikaturen die brutale deutsche Kriegführung und die Gräueltaten an der Zivilbevölkerung heftig anzuprangern. Das führt schon bald zu ersten Zensurversuchen vonseiten der Regierung, die eine Gefährdung der niederländischen Neutralität befürchtet.
Reaktionen aus Deutschland lassen ebenfalls nicht lange auf sich warten. Am 7. Oktober beklagt die "Kölnische Volkszeitung", dass sich die zunächst prodeutsche Stimmung in den Niederlanden komplett gewandelt habe: "Das Volk ist eben vergiftet worden. Nicht wenig haben ... die einseitigen, satirischen Bilder im Blatte 'Telegraaf' von der Hand des ... Zeichners Louis Raemaekers dazu beigetragen."
Und am 21. Januar 1915 verlangt der deutsche Botschafter in Den Haag, Felix von Müller, Maßnahmen gegen die Veröffentlichung von Sammelbänden mit Raemaekers Werken, "denn diese Karikaturen, die seit mehreren Monaten im Ausland verkauft werden, sind hundertmal schädlicher als ein antideutscher Zeitungsartikel".
Kopfgeld für einen Karikaturisten?
Unter dem Druck der Deutschen versucht die niederländische Regierung wiederholt, Raemaekers und den "Telegraaf" insgesamt zu einer neutraleren Linie zu bewegen, doch da in den Niederlanden kein Kriegsrecht herrscht, bleiben auch diese Versuche ohne Erfolg.
Im September 1915 kommt schließlich das Gerücht auf, die deutsche Regierung habe ein Kopfgeld von 12 000 Mark – tot oder lebendig – auf Raemaekers ausgesetzt. Geschockt davon und beunruhigt durch die zunehmenden Droh- und Hassbriefe an ihn und seine Familie, trägt Raemaekers ab jetzt ständig eine Pistole bei sich. Bewiesen werden konnte das Kopfgeld-Gerücht nie, Quellen, die es belegen, finden sich keine – doch "die Geschichte diente sowohl während des Krieges als auch danach dazu, die Wirkung zu verdeutlichen, die sein Werk sowohl in Deutschland als auch in den alliierten Staaten hatte", so die Kunsthistorikerin und Raemaekers-Biografin Ariane de Ranitz.
Doch was macht Raemaekers' Karikaturen im Krieg so wirkungsvoll? Großes Talent hat er zweifellos, seine Karikaturen erinnern mitunter durch den dynamischen Strich und die bevorzugte Verwendung von Zeichenkohle an die Werke Honoré Daumiers oder des von ihm verehrten Théophile Steinlen, ohne aber je deren Unverwechselbarkeit zu erreichen.
Vom Stil und der Motivwahl ist Raemaekers sogar deutlich weniger extrem als viele seiner französischen und belgischen Kollegen während des Krieges, die die Deutschen oft als völlig entmenschte, gorillaartige Monster zeichnen und in ihren Bildern bereitwillig erfundene Gräuelgeschichten aufgreifen – etwa die, dass deutsche Soldaten Kindern die Hände abgehackt, Babys mit dem Bajonett aufgespießt, Frauen die Brüste abgeschnitten oder Leichen zu Seife verarbeitet hätten.
Vielmehr wirken gerade Raemaekers' Karikaturen zu deutschen Gräueltaten oft fast wie Reportagezeichnungen, wie Skizzen durch einen Augenzeugen – was er nie war. Doch gerade der dokumentarisch wirkende Stil macht sie oft noch erschreckender und psychologisch wirkungsvoller, zudem verleiht zusätzlich Raemaekers' Status als Bürger eines neutralen Staates seinen Bildern eine hohe Glaubwürdigkeit. Und auch in vielen eher symbolhaften Karikaturen zeigt er seine Meisterschaft darin, mit sparsamen Mitteln eine große emotionale Wirkung zu erzielen.
Das britische Kriegspropagandabüro verbreitet die Karikaturen
Schnell wird Raemaekers auch im Ausland populär. Erste Karikaturen außerhalb der Niederlande kann er schon im Oktober 1914 veröffentlichen, ab Anfang 1915 immer regelmäßiger in englischen Zeitschriften, unter anderem in der "Daily Mail", der damals weltweit am weitesten verbreiteten Zeitung. Ende 1915 bringt ihm eine große Ausstellung in London den Durchbruch zum Weltruhm. Raemaekers wird vom britischen Premierminister Herbert Henry Asquith empfangen, in hymnische Rezensionen feiert die britischen Presse die Schau, die "Times" etwa schreibt: "Dieser Neutrale ist das einzige Genie, das der Krieg hervorgebracht hat." Weitere gefeierte, von Hunderttausenden Menschen besuchte Ausstellungen in England und bald auch in Paris folgen.
Schon kurz nach seiner Ankunft in London wird Raemaekers vom britischen Kriegspropagandabüro Wellington House kontaktiert, das sich sofort um die millionenhafte Verbreitung seiner Karikaturen weltweit bemüht – ob in Büchern, auf Postkarten, Streichholzetiketten Zigarettenkarten, als Dias oder Nachdrucke in Zeitschriften. Seine Karikaturenbände erscheinen in 18 Sprachen, unter anderem sogar in Baskisch. "Raemaekers wurde zur einflussreichsten Figur bei der Projektion des alliierten Bildes vom deutschen Feind auf das Publikum daheim und in der übrigen Welt", schreiben die irischen Historiker John Horne und Alan Kramer in ihrer Studie "Deutsche Kriegsgreuel 1914".
Entscheidende Rolle in der US-Propaganda
Seine wichtigste Rolle spielt Raemaekers aber wohl bei den Bemühungen, die öffentliche Meinung in den USA auf den Krieg gegen Deutschland einzustimmen. Als er Mitte 1917 das Land auf Bitten der britischen Regierung erstmals besucht, hat die US-Regierung zwar Deutschland schon den Krieg erklärt, die Zustimmung der Bevölkerung dafür aber noch nicht umfassend gewonnen.
Ausgerechnet mit dem Presseimperium des Verlegers William Randolph Hearst schließt Raemaekers einen Vertrag, obwohl dessen Zeitungen als eher deutschfreundlich gelten – im Nachhinein ein genialer und extrem erfolgreicher Schachzug, weil sie dadurch noch glaubwürdiger erscheinen und ein Publikum erreichen, das erst noch überzeugt werden muss. Bis zum Oktober 1917 haben 2000 US-Zeitschriften seine Karikaturen mehrere Hundert Millionen Mal verbreitet, dazu kommen zahlreiche andere Medien bis zum Straßenbahnposter und die Verwendung für Rekrutierungsplakate. Raemaekers' Popularität wächst zusätzlich durch eine ausgedehnte Tour durch das Land, er trifft sich mit Präsident Woodrow Wilson und dessen Vorgänger Theodore Roosevelt – Letzterer nennt seine Karikaturen die "kraftvollsten aller ehrenvollen Beiträge von Neutralen für die Sache der Zivilisation im Weltkrieg".
Viele Historiker betonen den enormen Einfluss, den Raemaekers' Karikaturen auf die öffentliche Meinung in den USA hatten, und bescheinigen ihnen entscheidenden Anteil daran, die Haltung der amerikanischen Bevölkerung im Sinne der Alliierten verändert zu haben. Wie entscheidend der Anteil des niederländischen Zeichners tatsächlich war, lässt sich wohl nicht mehr herausfinden, auf jeden Fall aber gilt die massenhafte Verbreitung seiner Karikaturen als größte Propagandaanstrengung während des Ersten Weltkriegs.
Sein Einfluss zeigt sich auch darin, dass Deutschland Raemaekers bis zum Ende des Krieges bekämpft, vor allem die Verbreitung seiner Werke in den neutralen Staaten. Unter deutschem Druck untersagt etwa die spanische Regierung im November 1916 eine Zeit lang eine Ausstellung in Madrid, und Anfang 1918 strengt die deutsche Botschaft in der Schweiz eine Klage gegen die Ausstellung der Bilder in Genf an, allerdings ohne Erfolg.
Der Satiriker Kurt Tucholsky schreibt 1918, damals offenbar noch patriotischer als nach Kriegsende eingestellt, über den Unterschied zwischen deutscher und alliierter Propaganda: "Wir verteidigen uns brav. Wir veröffentlichen saubere Statistiken, wie gut unsre Schulen arbeiten und wie viel Kriegsanleihe wir gezeichnet haben – eine Zeichnung Raemaekers' wirft das alles um."
An seinen Ruhm in den Kriegsjahren kann er nie mehr anknüpfen
Schon bald nach dem Krieg schwindet Raemaekers' Ruhm rapide; der Bedarf an Agitations- und Hassbildern ist vorbei. Dazu kommt, dass die extreme Übertreibung mancher Kriegsverbrechen in der Entente-Propaganda, denen teilweise durch offizielle staatliche Berichte wie den sogenannten Bryce-Report von 1915 Tatsachencharakter gegeben worden war, mit einiger Verspätung nach hinten losgeht. Ende der 1920er-Jahre weisen mehrere Veröffentlichungen nach, dass viele der im Bryce-Report zitierten Gräueltaten reine Erfindung waren – weswegen nach 1939 viele Briten und Amerikaner lange auch die Berichte über Gräueltaten der Nazis für reine Erfindungen halten.
Raemaekers jedenfalls konnte bis zu seinem Tod 1956 an seine früheren Erfolge nie mehr anknüpfen, geriet zuletzt selbst in den Niederlanden in Vergessenheit. Im Zuge der Veranstaltungen zum hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs wurde er nun wieder etwas aus der Versenkung geholt. Nach zwei Ausstellungen in den Niederlanden und der Veröffentlichung eines prachtvollen Bandes zu <link louisraemaekers.com/the-book _blank>Werk und Biografie</link> widmet sich nun erstmals auch eine deutsche Ausstellung in Münster dem Zeichner, über den die "New York Times" 1956 in einem Nachruf schrieb: "Man sagte von Raemaekers, dass er die einzige Privatperson sei, die einen realen und bedeutenden Einfluss auf den Verlauf des Ersten Weltkriegs ausgeübt habe."
Ausstellungen zu Louis Raemaekers:
<link www.uni-muenster.de/HausDerNiederlande/veranstaltungen/ss2015/detail.shtml _blank> "Louis Raemaekers: Mit Stift und Feder als Waffe"</link>, Haus der Niederlande, Alter Steinweg 6/7, 48143 Münster; noch bis 3. Mai 2015
<link www.limburgsmuseum.nl/de/schauen_machen/wechselasstellungen/raemaekers/ _blank>"Ten strijde met potlood en pen. Louis Raemaekers"</link>, Limburgs Museum, Keulsepoort 5, 5911 BX Venlo, Niederlande; bis 3. Mai 2015
Weitere Informationen: <link louisraemaekers.com / _blank>Stichting Louis Raemaekers</link>
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Schwabe
am 16.04.2015Für die Kriegserklärung der USA an Deutschland…