Um die Folgen für die redaktionellen Abläufe und das Erscheinen der Zeitschrift gering zu halten, wenn dann mal eingesessen werden musste, hatte das Blatt vorgesorgt: Als der in Hamburg gegründete "Wahre Jacob" 1884 in Stuttgart neu erschien, war zwar eigentlich Wilhelm Blos der verantwortliche Redakteur, das Impressum verzeichnete an dessen Stelle aber einen gewissen R. Seiffert, einen aus Hamburg ausgewiesenen Druckereiarbeiter. Er fungierte als "Sitzredakteur". Der saß für den Fall des Falles.
Das war keine Spezialität des "Wahren Jacobs": Viele exponierte Zeitungen und Zeitschriften hatten einen solchen Sitzredakteur, der den Chefredakteur oder andere unentbehrliche Mitarbeiter vor Strafverfolgung decken und gegebenenfalls stellvertretend eine Haftstrafe absitzen sollte. Erlaubt wurde das durch eine Lücke des Reichspressegesetzes: eingefahren ist der "verantwortliche Redakteur" – das sollte eine einfachere juristische Handhabe schaffen.
Zubrot für Invaliden, Initiationsritus für Jungjournalisten
Die Kenntnis über Verbreitung und Identitäten von Sitzredakteuren ist allerdings lückenhaft. Während Rudolf Stöger in seiner "Deutschen Pressegeschichte" schreibt, es seien zumeist "Kriegsinvalide mit geringem Einkommen" gewesen, die "gegen Entgelt Strafen für die tatsächlichen Verfasser" absaßen, nennt Bernhard Grau in seiner Biografie des mehrjährigen "Vorwärts"-Chefredakteurs und späteren bayrischen USPD-Ministerpräsidenten Kurt Eisner (1867–1919) den Dienst als Sitzredakteur eine "für die Sozialisation des kritischen Journalisten im Kaiserreich fast unabdingbare Erfahrung".
Eisner fungierte als 25-jähriger Jungjournalist bei der "Frankfurter Zeitung" 1892 drei Monate lang für den politischen und allgemeinen Teil als Sitzredakteur. Laut Grau musste diese Aufgabe "im Normalfall einer der jungen, noch kaum profilierten Redaktionsangehörigen" erledigen. Eine Art Initiationsritus also, mit potenziell bleibenden Folgen: Eisner wurde in seiner Zeit als Sitzredakteur zweimal gerichtlich belangt, und auch wenn es nur Geldstrafen waren, die die "Frankfurter Zeitung" wohl aus der Prozesskasse bezahlte, war er damit vorbestraft. Viele spätere Verurteilungen von Journalisten zeigen jedoch, dass der Sitzredakteur irgendwann weniger gebräuchlich wurde.
Viele Verfahren, wenig harte Strafen
Majestätsbeleidigung gilt heute gleichsam als das typische Delikt des Kaiserreichs, vor allem in der Regierungszeit des sprunghaften, unberechenbaren Wilhelm II. (1888–1918). In diesen Jahren kam es zu insgesamt 12 196 Anklagen und 9212 Verurteilungen wegen Majestätsbeleidigung. 1894 war mit 720 Verurteilungen in einem Jahr der Höhepunkt erreicht; danach war die Tendenz rückläufig.
Angesichts dessen ist ziemlich erstaunlich, dass trotz riesiger Mengen von Strafanzeigen im Pressebereich nur selten Satirezeitschriften zu harten Strafen verurteilt wurden. Insgesamt sind nur drei Fälle bekannt, in denen Mitarbeiter von Satireblättern wegen ihrer Veröffentlichungen tatsächlich ins Gefängnis mussten: beim "Kladderadatsch", dem "Simplicissimus" und dem "Süddeutschen Postillon", allesamt 1898.
Woran lag das? Vor allem an der sehr vorsichtigen Vorgehensweise der deutschen Witzblätter, einer Art selbst verordneter Zurückhaltung. So taucht Willi zwo in seinen ersten Jahren in deutschen Karikaturen kaum auf, und wenn, dann meist nur in Teilansichten oder etwa verschleiert als anonymer absolutistischer Herrscher "Serenissimus". Oft heißt der Kaiser auch nur "ER" oder bekommt Namen wie "Siegfried Mayer" – mit Initialen S. M. wie "Seine Majestät".
"Schwäbische Freimütigkeit": Der Südwesten ist liberaler
Sehr geschickt im Umschiffen justiziabler Inhalte war auch der "Wahre Jacob", dem zudem die relative Liberalität der württembergischen Justiz zugute kam. Die bewegte selbst Albert Langen, Herausgeber des Münchner Satireblatts "Simplicissimus", dazu, sein Blatt ab 1899 in Stuttgart drucken zu lassen. Der "Simplicissimus"-Autor Ludwig Thoma erinnert sich: "Es lag in der schwäbischen Freimütigkeit begründet, dass die Saftigkeit des Ausdruckes und Schärfe des Angriffes hier keine Schauer des Entsetzens erregten."
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Oliver Stenzel
am 23.04.2016