Wie bei vielen anderen ehemaligen Funktionsträgern des Nazi-Regimes spielte auch Kurt Georg Kiesingers NS-Vergangenheit in der jungen Bundesrepublik lange keine Rolle. Dass der in Ebingen geborene Politiker sehr früh schon, im Februar 1933, in die NSDAP eingetreten war, dass er während des Krieges in der Rundfunkpolitischen Abteilung des Außenministeriums auch für antisemitische und Kriegspropaganda im Ausland zuständig war, dass er also wahrscheinlich mehr als nur ein "Mitläufer" war, als der er 1948 eingestuft wurde, das alles schien noch in seiner Zeit als baden-württembergischer Ministerpräsident (1958 bis 1966) kein Thema zu sein. Erst, als der 1947 in die CDU eingetretene Kiesinger 1966 Bundeskanzler werden sollte, meldeten sich etwa mit Günther Grass, Karl Jaspers oder Heinrich Böll prominente Kritiker zu Wort. Und die anschwellende Studentenbewegung sah in ihm ein Symbol für die mangelnde Aufarbeitung der NS-Diktatur und der Re-Integrierung von deren Eliten.
Der Protest und die Benennung der Verstrickungen zog damals mitunter juristische Verfolgung nach sich. Als etwa der Künstler Jürgen Holtfreter für die Stuttgarter Plakatgruppe eine Collage mit dem Titel "Ein Mann hat seine festen Freunde" anfertigte, die Kiesinger zwischen Hitler und dem spanischen Diktator Franco zeigte, und die im Juli 1969 in ihrer "Plakat"-Zeitung veröffentlicht wurde, da erstattete der gescholtene Bundeskanzler Anzeige "wegen Verunglimpfung von Verfassungsorganen". Und weil ein gewisser Peter Grohmann Verantwortlicher im Sinne des Presserechts war, wurde die Polizei in dessen damaliger Fellbacher Wohnung mit einem Durchsuchungsbefehl vorstellig, fand aber nichts. Grohmann, der regelmäßig Kolumnen für Kontext verfasst, hat die Episode in seinen Erinnerungen "Alles Lüge außer ich" verewigt. Der Fall schaffte es aber auch in den "Spiegel", wo zudem der Ursprung der Collagen-Idee erläutert wurde. Kiesinger hatte sich nach einem Spanien-Besuch öffentlich als Diktatoren-Bewunderer gezeigt: "Bei Franco hat mich die präzise Analyse und die Klarheit seiner Gedanken beeindruckt."
Dass der Fall der inkriminierten Collage es damals in das Hamburger Nachrichtenmagazin schaffte, hing womöglich auch damit zusammen, dass Kiesingers Vergangenheit einige Monate zuvor weltweit bekannt gemacht worden war – durch eine wahrhaft historische Klatsche: Am 7. November 1968 hatte die Journalistin Beate Klarsfeld auf dem CDU-Parteitag in Berlin das Podium bestiegen und Kiesinger eine Ohrfeige gegeben, dazu "Nazi, Nazi!" gerufen. Die Folgen waren eine Verurteilung zu einem Jahr Gefängnis, die die damals 29-jährige Frau allerdings nie antreten musste. Ein anderes Resultat war die gesteigerte Aufmerksamkeit für alte Nazis, die unbehelligt geblieben waren. Und bis dato gute Chancen hatten, auch unbehelligt zu bleiben, unter anderem, weil die Bundesrepublik Altnazis, die in anderen Ländern wegen ihrer Verbrechen verurteilt worden waren, in der Regel nicht auslieferte.
Filmwürdige Lebensgeschichten
Mit der berühmten Ohrfeige beginnt auch ein neuer Comic der beiden Franzosen Pascal Bresson und Sylvain Dorange, der so heißt wie seine beiden Hauptpersonen: "Beate & Serge Klarsfeld". Knapp 30 Seiten widmen sich der Aktion, die für viele das einzige sein mag, was sie mit dem Namen Klarsfeld verbinden. Dass aber das ganze Werk rund 200 Seiten umfasst, zeigt schon, dass das Leben des deutsch-französischen Ehepaars noch viel mehr bereit hält – und zwar spielfilmtauglichen Stoff, den Bresson als Autor und Dorange als Zeichner so dramaturgisch gekonnt, packend und faktengesättigt zu erzählen wissen, dass es einen nicht wundern würde, wenn Filmproduzenten schon für eine Adaption Schlange stünden.
"Die Nazijäger" heißt der Band im Untertitel, denn das waren und sind die Klarsfelds nach der Kiesinger-Aktion die meiste Zeit gewesen: Sie begnügten sich nicht damit, alte Nazis und deren Verstrickungen öffentlich bekannt zu machen, sondern begannen, aktiv NS-Täter zu suchen, um sie vor Gericht zu bringen. Eine anstrengende und aufreibende Lebensaufgabe, aber für beide eine Art Mission, die sich auch aus ihren Lebensgeschichten und ihrer unterschiedlichen Herkunft ergibt, wie der Comic verdeutlicht: Nachdem Beate und Serge Klarsfeld sich 1960 in Paris kennen gelernt und verliebt haben – sie ist dort als deutsches Au-Pair-Mädchen –, erzählt ihr Serge bei einem ihrer ersten Treffen von der Geschichte seiner jüdischen Familie. Und dass sein Vater 1943 von der SS in Nizza verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. Beate ist geschockt, auch weil die NS-Geschichte in ihrer Familie – und auch in Deutschland insgesamt – nur sehr wenig thematisiert wurde.
Als Kiesinger 1966 zum Bundeskanzler gewählt wird, drängt es Beate, aktiv zu werden. Erst schreibt sie Artikel gegen Kiesinger, wegen derer sie ihre Stelle beim Deutsch-Französischen Jugendwerk verliert. Die Ohrfeige ist dann die logische Folge. "Mir wurde bewusst, dass mein gesammeltes Material über Kiesinger nichts bewirkt, wenn ich es nicht mit spektakulären Gesten verbreite, über die die sensationsgierige Presse berichten würde", sagt sie später in einem Radio-Interview. Was zeigt: Die Klarsfelds, vor allem Beate, waren auch im Herstellen von Öffentlichkeit, in der PR für ihre Anliegen immer sehr versiert.
Das wird auch bei einer eigentlich gescheiterten Aktion deutlich: 1971 versuchen die Klarsfelds mit einigen Getreuen in Köln den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Kurt Lischka zu entführen, der für die Deportation von über 70.000 Juden in Frankreich verantwortlich war. Das geht gründlich schief, sie müssen vor der Polizei fliehen, doch statt sich zu verstecken, trifft sich Beate Klarsfeld mit Journalisten und spricht offen über den Kidnapping-Versuch – mit klarer Botschaft: "Wenn ich verhaftet werde, ist das der Beweis, dass die Behörden lieber mich ins Gefängnis stecken, als die Kriegsverbrecher, die in Deutschland frei herumlaufen, an die Justiz auszuliefern."
12 Jahre auf Jagd
Erst im Jahr 1979 wird Lischka, der in Frankreich schon 1950 in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, in Köln der Prozess gemacht, der mit einer Verurteilung zu zehn Jahren Freiheitsstrafe endet. Ermöglicht wurde auch dies im Grunde durch das Engagement der Klarsfelds: 1975 ratifizierte der Deutsche Bundestag ein Zusatzabkommen mit Frankreich, das eine juristische Verfolgung von in Frankreich verurteilten NS-Verbrechern auch in Deutschland ermöglicht – und das als "Lex Klarsfeld" bekannt wird.
Dieses Abkommen wird im Comic kaum erwähnt, die Abstimmung im Bundestag, bei der Beate Klarsfeld anwesend war, kommt nicht vor. Was nicht weiter stört, faktengesättigt ist der Band ohnehin schon, und rund zwei Drittel seines Inhalts sind einem speziellen Fall gewidmet: der Jagd nach Klaus Barbie, dem ehemaligen Gestapo-Chef von Lyon, der wegen seiner Grausamkeit auch als "Schlächter von Lyon" bekannt war.
1 Kommentar verfügbar
Jue.So Jürgen Sojka
am 09.06.2021Klatschen auf Schenkel, unterstützt durch lautes Lachen, das konnten Ewiggestrige bereits vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, waren diese doch an den vorbereitenden Gründungsprozeduren vielzählig beteiligt! [1]
9.6.2021 Mann ohrfeigt Frankreichs Präsidenten…