Am Anfang ist alles schwarz. Eine ganze Seite, eine zweite, dann eine mit lauter schwarzen Einzelbildern, Panels. Sinnlose Platzverschwendung? Doch auf der dritten Seite ist das letzte von acht Panels grau, und auf der folgenden Seite wird deutlich, dass sich eine Tür öffnet, dass das Schwarz das Innere eines Briefkastens war. Aus dem nimmt ein junger Mann einen Brief heraus, geht die Treppen hoch, wird in der Wohnung von der Katze angemaunzt, ruft seine Freundin an – und nach so kurzer Zeit wird schon klar, dass die schwarzen Seiten völlig schlüssig waren, denn von diesen ersten schwarzen Bildern an wird die Geschichte ungeheuer filmisch erzählt. Standard bei Comics, mögen Kenner einwenden, doch bei "Jein" von Büke Schwarz wirkt es oft so, als seien in gleichen, kurzen Abständen Einzelbilder aus einem Film genommen, sind auch die Dialoge so lebendig und gut verteilt, dass es einen erstaunlichen Sog beim Lesen erzeugt. Das schaffen in dieser Intensität nicht allzu viele Genre-Werke.
Dabei ist das Formale, zu dem auch die herrlich leichten und flinken, in Grautönen aquarellierten Tuschezeichnungen gehören, gar nicht das einzig Bemerkenswerte am Comic-Debüt der Berlinerin Büke Schwarz. Sondern auch, wie souverän sie ihre teils schweren, teils sperrigen Themen in eine leichtfüßig und humorvoll, aber nie oberflächlich und flach erzählte Geschichte bettet. Eine Geschichte, die vor knapp drei Jahren spielt.
Hauptfigur ist die Künstlerin Elâ Wolf, die mit ihrem Freund Jonas in Berlin lebt. Sie ist in Deutschland geboren, ihre türkischen Wurzeln haben für sie jedoch keine Bedeutung, die Fragen danach nerven sie. Denn oft sind dies zugleich Versuche von Identitätszuschreibungen, die dann auch auf ihre Kunst angewandt werden. Doch mit ihrer Kunst, oft großformatige Gemälde, wolle sie Geschichten erzählen, sagt Elâ, mit ihrer Herkunft habe diese nichts zu tun.
Immer wieder: Fragen nach Herkunft und Identität
Die Fragen kommen trotzdem immer wieder, auch, als sie sich mit Helen, Orson und Robert, trifft, um mit ihnen eine Ausstellung vorzubereiten – denn alle vier sind Preisträger der (fiktiven) Goldmund-Stiftung für Junge Kunst. Ob sie Wahlrecht in der Türkei habe, fragt sie der Aktionskünstler Orson noch vor der Vorstellungsrunde. Wegen des anstehenden Referendums in der Türkei, in dem Präsident Recep Tayyip Erdoğan über eine neue Verfassung abstimmen lassen will. Nein, sagt Elâ, denn sie habe keinen Doppelpass.
Weiter gehen die politischen Erörterungen der Runde dann erstmal nicht, denn die vier müssen sich um die Ausstellungsplanung kümmern, finden aber kein gemeinsames Konzept und keinen Titel. Bis Orson vorschlägt, die Entscheidungsschwäche zum Konzept zu machen – und die Ausstellung "Jein" zu nennen.
"Jein" sei "ein etwas schillernder Begriff", sagt Büke Schwarz. Heutzutage werde gerne so getan, als gäbe es immer genau eine richtige Antwort. Dabei sei das oft schwieriger als angenommen, besonders bei emotional aufgeladenen Themen wie Identität. "Trotzdem werden immer eindeutige Positionen zu fast allem gefordert. 'Jein' verweigert sich dieser Ansicht", so Schwarz. Aus künstlerischer Sicht stehe "Jein" außerdem in ihrer Graphic Novel für die Frage nach einer Rolle, Verantwortung oder Pflicht von KünstlerInnen in Zeiten politischer Umbrüche oder Veränderung. Sollte Kunst dann Stellung beziehen? Und zu guter Letzt spiele "Jein" auf den Wahlzettel des Referendums in der Türkei an, als Kofferwort aus Ja und Nein, "Evet" und "Hayır".
Gekonntes Spiel mit Comic-Formalia
Als jenes Referendum am 16. April 2017 vom "Ja"-Lager knapp gewonnen wird, holen die Entwicklungen auch Elâ ein. Sie erlebt entgeistert die Erdoğan-Fans auf den Berliner Straßen, die den Sieg mit einem Autocorso feiern und einen Vorgeschmack auf eine zunehmende Polarisierung geben: Ein junger Mann, der "Hayır" an eine Wand sprüht, wird von einer Meute verfolgt, entkommt aber – mit Sprüngen über einen wie eine hohe Skulptur auf dem Boden liegenden "Evet"-Schriftzug. Immer wieder erweitert Schwarz ihre Erzählung um solche assoziativen Elemente, spielt gekonnt mit Comic-Formalia, etwa auch, wenn sie kurz nach dem Referendum auf einer Seite nach dem Bildrand greift, ihn herunterzieht und wie eine Decke um sich zu hüllen scheint.
Ihre Herkunft holt Elâ nun gewissermaßen mehrfach ein – in Form ihres Vaters, eines glühenden Erdoğan-Anhängers. Ihre Eltern haben sich schon lange getrennt, die Mutter hat einen Deutschen geheiratet – daher der Nachname Wolf – während der Vater in Istanbul lebt. Doch er hat von der Ausstellung in der Zeitung gelesen, besucht nun seine Tochter – und kann nicht verstehen, warum sie nicht türkisch mit ihm sprechen und auch sonst mit ihren Wurzeln nichts zu tun haben will.
Die Herkunft holt Elâ auch ein, nachdem sich die Künstlerin kurz vor der Ausstellungseröffnung der vier Preisträger in einem TV-Beitrag kritisch zu Erdoğans Kulturpolitik geäußert hat. Die Folge sind Hass- und Droh-Mails, Elâ hat in der Folge mehrmals den Eindruck, verfolgt zu werden, wird leicht paranoid.
Wie sich das Klima in der Türkei schon gewandelt hat, merkt sie auch bei der Ausstellungseröffnung. Ihr Vater kommt gemeinsam mit einem Istanbuler Galerist. Der sagt ihr, sie könnte in Istanbul viel Erfolg haben, "eine richtige Künstlerin" werden – wenn sie an ihren Arbeiten einige Änderungen vornehme, sich "an die Regeln halte".
Beängstigend: die Selbstzensur in der Türkei
Doch was sind eigentlich die Regeln in Erdoğans neuer Kunst- und Kulturpolitik? "Die Regeln kann ich leider nicht klar benennen, da mir die Taten und Bestrafungen sehr willkürlich erscheinen", so Schwarz. Aber genau das sei das Beängstigende: Die politische Unsicherheit, Willkür und Repression sorgen nach Meinung von Schwarz "für eine schleichende Selbstzensur, die unter den Kulturschaffenden und Journalisten immer weiter zunimmt. Sowohl Meinungs- als auch Kunstfreiheit wird so immer weiter eingeschränkt."
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!