Es ist Nacht, eine Schreibtischlampe brennt, ein junger, aber schon recht beleibter Mann sitzt da wie ertappt, schaut den Betrachter an und fragt: "Mama?!" In diesem vorangestellten kleinen Panel haben der Autor Noël Simsolo und der Zeichner Dominique Hé ein biografisches Thema angespielt, das sie beim ganzseitigen Auftakt ihres Hitchcock-Comics ins Werk des Regisseurs erweitern. An der Fassade eines Pariser Kinos prangt im Jahr 1960 Anthony Perkins mit schreckgeweiteten Augen auf einem "Psycho"-Plakat, über ihm (!) ist Hitchcock selber zu sehen, der das Publikum bittet, nicht das Ende seines Films zu verraten. Und schon zitiert der mit klarer Linie gezeichnete und auf traditionelles Layout vertrauende Comic aus diesem obsessiv mutterfixierten Thriller. Er stellt jene mörderische Duschszene nach, die damals die ganze Welt schockiert – in einer Art Split-Panel-Technik werden die Bilder mit solchen vom Publikum in Berlin, Tokio und Dakar gekoppelt – und sich in die Filmgeschichte eingeschlitzt hat.
Hitchcock hat immer noch einen großen Namen, aber für eine jüngere Zuschauergeneration ist er vielleicht kein Begriff mehr, der sich sofort mit Inhalt füllen ließe. Und wer so dröge Remakes wie etwa das von Netflix produzierte "Rebecca" vorgesetzt bekommt, der ahnt wohl nicht, wie viel tiefer das 1940 gedrehte Original in menschliche Abgründe blicken lässt. Hitchcocks "Rebecca" war des Regisseurs erster Hollywoodfilm, was für diese auf zwei Bände angelegte Comic-Biografie bedeutet: Dieser Film wird hier noch keine größere Rolle spielen. Der nun vorliegende erste Band heißt nämlich "Der Mann aus London", und auch wenn zeitlich immer wieder vorausgegriffen wird und Hitchcock 1954 in einer Rahmenhandlung im Gespräch mit Cary Grant zu sehen ist – die beiden sitzen in einer "Über-den-Dächern-von-Nizza"-Drehpause auf der Terrasse des Carlton in Cannes –, so beschäftigt er sich im Wesentlichen doch mit den englischen Jahren des Meisterregisseurs.
Die in England gedrehten Filme, so wie dieser Comic alle in Schwarzweiß, zeigen die rasante Entwicklung eines Mediums und vor allem die eines Mannes, der es nicht nur virtuos bedient, sondern quasi erfindet. Immer wieder verweist Simsolo auf Hitchcocks Erzählen in Bildern, auf visuell-narrative Techniken, mit denen er auf Zwischentexte im Stumm- und später auf Dialoge im Tonfilm verzichten kann. Hier entsteht also das, was später als Hitchcock-Touch berühmt wird. Schon sehr früh ist der Regisseur auch darauf bedacht, sich selber zum Markenzeichen zu machen, und dazu gehören wohl auch seine "practical jokes", jene nicht ganz so harmlosen Streiche, die er seinen Akteuren spielt. Er kann ein schadenfreudig-hämischer Manipulator sein, der seine Macht genießt. Und er pflegt seine Marotten, zerdeppert etwa "zur Entspannung" am Set Teetassen, die ein Assistent sofort aufkehrt.
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Peter Hermann
am 06.01.2021