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Deutsch-französische Militärforschung

"Forschen an vorderster Front"

Deutsch-französische Militärforschung: "Forschen an vorderster Front"
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Baden-Württemberg sucht nach europäischen Partnern, wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagt, "die unsere Werte teilen". Konkret in der Wehr- und Sicherheitstechnik. Bei der letzten Auslandsreise des grünen MP verschwimmen die Grenzen zwischen Krieg und Frieden.

Es ist stickig und laut in dem kleinen Rundbau, der Eindrücke vom Nahkampf in Schützengräben des ersten Weltkriegs vermittelt. Die Berichte sind erschütternd, die Besucher:innen der Gegenwart entrissen. "Plötzlich", schreibt der französische Gebirgsjäger André Larrue über den 6. April 1915, "stand ich einem deutschen Unteroffizier gegenüber, der seinen Revolver auf mich richtete. Kalt stieß ich ihm mein Bajonett in die Brust – und krack! Ich hatte so stark zugestoßen, dass auch der Lauf meines Gewehres eingedrungen war. Ich hatte meine Kraft nicht mehr unter Kontrolle."

Drei Tage dauert Kretschmanns letzter Besuch der Grenzregionen im Elsass und in der Schweiz. Am Hartmannswillerkopf in den Vogesen war er schon bei der Grundsteinlegung vor elf Jahren, jetzt, wenige Monate vor dem Ende seiner Ära, wollte er die Gedenkstätte noch einmal in offizieller Mission besuchen. Artefakte und Ausrüstungsgegenstände, Briefe und Tagebucheinträge sind in dem "Historial" zusammengetragen, um die Sinnlosigkeit des Stellungskriegs zu illustrieren, der hier zwischen 1914 und 1916 stattgefunden hat. Keiner der beiden Seiten brachte das Gemetzel entscheidende Geländegewinne. Als es vorüber war, hatten 30.000 deutsche und französischen Soldaten ihren vermeintlichen Dienst am Vaterland mit ihrem Leben bezahlt.

Einer von ihnen war Gerlinde Kretschmanns Großonkel. Erst am Totenbett eines Verwandten wurde dieser Teil der Familiengeschichte bekannt, erzählt Kretschmann, der auch gekommen ist, um persönliche Geschenke zu übergeben: Zeichnungen des gefallenen jungen Architekten namens Xaver Henselmann. Für "die große Ehre" bedankt sich einer der französischen Gastgeber, die dem Geiste des "für immerwährende Aussöhnung" stehenden Mahnmals entspreche. Auf der Anhöhe, von der die Delegation über die friedliche Landschaft schaut, weht eine französische Trikolore. Bis zum Waldrand, den Hügel abwärts, erstrecken sich Soldatengräber. Ein neues pädagogisches Zentrum ist entstanden, mitfinanziert durch Baden-Württemberg. "Hier können sich Schulklassen erholen und verarbeiten, was sie erfahren haben", sagt ein Betreuer.

Die Schlachten an dieser Stelle wurden geschlagen mit Bomben und Giftgranaten, mit Minen, Gewehren und Bajonetten. "Es war der Irrglaube an die Überlegenheit der eigenen Nation über andere Nationen, für den Millionen junger Männer in den Krieg zogen und darin umkamen", mahnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung des Museums im November 2017 und beschwor die in Frieden vereinte Europäische Union als "die Antwort auf die Verheerungen zweier Weltkriege".

Eine französisch-deutsche Geschichte

Offiziell blickt das ISL, das binationale Forschungsinstitut im französischen Saint-Louis, auf eine Geschichte seit 1959 zurück. Allerdings ist dokumentiert, wie sich französische Verantwortliche sogleich nach Deutschlands Kapitulation am 8. Mai 1945 für renommierte Physiker, Sprengstoffexperten oder Ballistiker interessierten – NSDAP-Parteibuch hin oder her. "Einige führende Persönlichkeiten wurden nach England gebracht, andere wurden gebeten, unter günstigen Bedingungen in Amerika zu arbeiten", heißt es schon am 16. Mai 1945 in einer Depesche an General de Gaulle. Die Alliierten im Westen wollten sich deutsches Wissen sichern. Vorgeschlagen wurde eine Einrichtung auf französischem Boden und mit französischen Freiwilligen zur Unterstützung. De Gaulle nannte es "angebracht", die ins Auge gefassten Wissenschaftler "in Ruhe zu ihrer Arbeit zu befragen, um sie möglicherweise dazu ermutigen zu können, uns weiterhin zur Verfügung zu stehen". Sie, 32 an der Zahl, kamen mit ihren Familien nach Weil am Rhein und profitierten von größeren Essensrationen. Im Juni wurden erste Verträge unterzeichnet. Ein Bus fuhr sie täglich – später sogar über die Schweiz – ins Elsass. Die Professoren verpflichteten sich, technisches und wissenschaftliches Fachwissen allein französischen Behörden zur Verfügung zu stellen und Vertraulichkeit zu wahren. Nur zwölf Wochen nach Kriegsende war der "deutsche Kern des zukünftigen französischen Armeelabors" geschaffen und das "Saint-Louis-Forschungslabor" offiziell gegründet. Die Experten rund um Hubert Schardin, seit 1935 Leiter des von den Nazis neu gegründeten Instituts für Technische Physik und Ballistik an der Technischen Akademie der Luftwaffe, waren ab sofort Angestellte der Französischen Republik. In den Fünfzigern erhielten einige von ihnen lukrative Angebote aus der Bundesrepublik, mochten sie aber nicht annehmen. Schardin ersann die binationale Trägerschaft und sicherte der Einrichtung damit die Existenz als, wie es damals hieß, "eines der weltweit bedeutendsten Forschungsinstitute auf dem Gebiet der Militärballistik".  (jhw)

Von Lehmkugeln zu Drohnen

Keine Autostunde von der Mangeuse d’hommes entfernt, der Menschenfresserin, wie der Berg auch genannt wird, arbeiten deutsche und französische Fachleute an ganz anderen Antworten. Normalbürger:innen müssen sich erst noch gewöhnen an die neue Logik von Rüstung, Aufrüstung und Nachrüstung, an die Finanzierungsversprechen von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), an sein "Whatever it takes" und ans neue Kriegsvokabular. In St. Louis nahe Mulhouse, am Institut für Sicherheits- und Verteidigungsforschung (ISL), gehört dies seit acht Jahrzehnten zum Alltag. Zeitenwende war hier schon immer, wie die Geschichte dieser Einrichtung lehrt – siehe Kasten.  

Es geht, worum es immer geht seit Menschengedenken, seit irgendwann im vierten Jahrtausend vor Christi Geburt Kämpfer in Mesopotamien im – nach gegenwärtigem Forschungsstand ersten – Krieg mit neuartigen, in Massen produzierten und geschleuderten Lehmkugeln aufeinander losgingen. Die Drohne, die den Gästen aus Baden-Württemberg an diesem Tag im Oktober 2025 in verschiedenen Flugphasen präsentiert wird, ist eine wegweisende Entwicklung: Um größtmöglichen Schaden anzurichten, kann sie die Luke eines Panzers anvisieren. "Am Ende wird immer irgendjemand da sein, dessen Leben von uns abhängt", sagt Bernd Fischer, der ISL-Vizepräsident. Und dass er "der glücklichste Mensch" wäre, würde das Institut überflüssig. Aber: "Unsere Arbeit ist so aktuell wie nie."

Erst vor ein paar Wochen, gesteht der Ministerpräsident, habe er überhaupt vom ISL erfahren und um ein Treffen gebeten. Gut zwei Stunden hat seine Delegation aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft Zeit, um sich über "Innovationen" informieren zu lassen, wie es im Programm heißt. Genauer gesagt: darüber, was die Verantwortlichen zeigen wollen und dürfen von ihren Arbeiten, etwa zum Verhalten von Schutzmaterialien im Explosionsfall, zu den Drohnen und Drohnenschwärmen oder zu Geschossen in Hypergeschwindigkeit.

6,4 Millionen für Sicherheit und Verteidigung

Mit Diehl Defence aus Überlingen ist einer der Institutspartner aus dem Südwesten schon seit längerer Zeit aktiv. "Produkte und Service konsequent an den Einsatzerfordernissen moderner Streitkräfte auszurichten" verheißt das Unternehmen auf seiner Homepage: Und dabei nichts weniger als "mit der Anwendung von Spitzentechnologien oft an die Grenzen des Machbaren zu gehen". Auch im ISL schwant den Besucher:innen, dass die Verteidigungsfähigkeit hier nur die eine Seite der Medaille ist, zumal der Werbeslogan ohnehin erstaunliche Offenheit an den Tag legt: "Forschung an vorderster Front."

Baden-Württemberg will da andocken. Die Hochschulen im Land hätten einiges vorzuweisen, weiß die grüne Wissenschaftsministerin Petra Olschowski. Unzufrieden ist sie mit dem Koalitionspartner CDU, der immerzu die sogenannte Zivilklausel in den Satzungen von Hochschulen beklage, wonach ihnen Forschung für Wehr- und Sicherheitstechnik untersagt sei. Dieses Hemmnis gebe es aber gar nicht, sagt Olschowskis, denn die Zivilklausel gelte lediglich für einen ganz bestimmten Teilbereich des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Ein neuer Innovationscampus für Sicherheit und Verteidigung ist mit 6,4 Millionen Euro ohnehin schon anschubfinanziert. Alles Weitere, so die Ministerin, liege bei den politischen Verantwortlichen nach der Landtagswahl. Ziel müsse sein, die sicherheitsrelevanten Potenziale der Hochschulen zu nutzen und Forschung, Wirtschaft und Sicherheitsorgane eng zu verzahnen.

Die Schweiz will ins All

Gegebenenfalls sogar mit Hilfe der neutralen Schweiz. Im Innovationspark Zürich wird an der kommerziellen Nutzung des Weltraums gearbeitet, an Raketensystemen, Wasserstoffflugzeugen, autonomen Drohnen und vielem mehr. Das Zentrum auf dem alten umgebauten Militärflughafen hat sich der "Space Economy" verschrieben. Wenn die Internationale Raumstation ISS 2029 außer Dienst geht, wollen die Eidgenoss:innen mit dem neuen "Startlab" die Lücke schließen und speziell in den Bereichen Life-Science und Pharmazie das große Geld verdienen.

Der Biologe im Ministerpräsidenten ist begeistert von der Idee, das Verhalten menschlicher Zellen in der Schwerelosigkeit zu nutzen – sie suchen sich gegenseitig – und Material herzustellen, um Leber, Knorpel oder Knochen zu transplantieren. Die mehrfarbige Präsentation der Zellen, entwickelt im All, weckt denn auch Assoziationen: Gebirgsjäger André Larrue beschreibt in seinem Brief, der am Hartmannswillerkopf zur Mitnahme ausliegt, die blutverschmierten, verstümmelten Verletzten und Toten am 6. April 1915 und den Kugelhagel: "Es macht uns nichts aus, man hat uns ein halbes Viertel Branntwein zu trinken gegeben." 

Kretschmann schlägt im "Historial" einen Bogen vom Gestern ins Morgen und zitiert die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann: "Erinnern ist Arbeiten an der Zukunft." Und in der letzten offiziellen Rede auf Schweizer Boden, am Europa-Institut der Universität Zürich, zitiert er sich dann selbst. 2012 vertrat er, ebenfalls in Zürich, die Ansicht, dass es "zweifellos richtig ist, vom Siegeszug der Demokratie weltweit zu sprechen". Dieser Satz jedoch sei "schnell gealtert", sagt er heute. Die bittere Konsequenz daraus formuliert der Grüne schon seit Wochen immer wieder, bekümmert darüber, dass ihm ein solcher Satz über die Lippen kommen muss: "Wir rüsten nicht auf, um Krieg zu führen – wir rüsten auf, um Krieg zu verhindern."

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