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Ganztagsbetreuung in der Grundschule

Schuld sind immer die anderen

Ganztagsbetreuung in der Grundschule: Schuld sind immer die anderen
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Was nach Aprilscherz klingt, ist bitterer Ernst: Per Los muss in Baden-Württemberg darüber entschieden werden, welche Kommunen schlussendlich in Ganztagsgrundschulen investieren können. Die Ursachen für den riesigen Nachholbedarf liegen tief.

Nur damit es nicht in Vergessenheit gerät: Es geht und ging immer zuallererst um Kinder und Jugendliche, um Gerechtigkeit, Aufstiegschancen, künftige Fachkräfte und wirtschaftliche Prosperität. Schon allein deshalb war nie verständlich, dass der Südwesten das Schlusslicht in der Ganztagsbetreuung nie loswerden wollte. Auch gegenwärtig bauen konservative Bürgermeister und Ratsmehrheiten noch immer darauf, dass der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz doch nicht im Herbst 2026 für alle Erstklässler:innen starten kann und aus Geldmangel verschoben werden muss. Mütter (und einige Väter) in Teilzeit werden's schon richten.

Die Situation ist verfahren. Es gibt Kommunen, die acht oder zehn oder noch mehr Anträge auf Förderung aus dem Investitionsprogramm des Bundes gestellt haben. 386 Millionen Euro aus Berlin fließen bis Ende 2026 ins Land. Dabei wäre mindestens das Dreifache nötig. Die Schuldigen für diese Unterdeckung sind in vielen Städten und Gemeinden schnell gefunden: immer die andern. Eine Steilvorlage lieferte zudem das Kultusministerium mitten im Sommerloch. Denn in Abwesenheit von Ministerin Theresa Schopper (Grüne) ist es dem grüngeführten Haus nicht gelungen, das zur Mittelvergabe gewählte System ohne das Reizwort "Los" zu vermitteln. Den absichtlichen Missinterpretationen wurden auf diese Weise Tür und Tor geöffnet. Dabei ist es hierzulande und in der ganzen Republik seit vielen Jahren geübte Praxis, bei Förderungen aller Art nach Eingang zu priorisieren, auch Windhundverfahren genannt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

In Erwartung eines heftigen und vor allem mehr oder weniger zeitgleichen Andrangs wurde diesmal ein anderes Vorgehen gewählt. Die Reihung findet nicht durch Datum oder Uhrzeit statt, sondern in allen vier Regierungspräsidien in Baden-Württemberg legten Beamt:innen per Los fest, in welcher Folge geprüft und entschieden wird. Nur gelang es den Verantwortlichen im Kultusministerium nicht, diese Notwendigkeit offensiv zumindest zu erläutern. Die Kommunikationslücke füllten die kommunalen Spitzenverbände, die in einer Art konzertierter Aktion diesen "Offenbarungseid" kritisierten. "Mit dem Losentscheid, welche Baumaßnahme bezuschusst wird, wird zugleich darüber gelost", heißt es beim Gemeindetag, "welche Kinder den Rechtsanspruch künftig nutzen können und welche nicht." Das stimmt nicht, weil die Anträge inhaltlich geprüft werden, trotzdem rollt die Empörungslawine.

Besonders große Lücke zwischen Bedarf und Angebot

Eine Endlosdebatte

Diskutiert wird über die Sinnhaftigkeit von Ganztagsunterricht in Baden-Württemberg seit den Sechzigern. 1968 wurden einzelne Modellversuche eingerichtet. Ganze Generationen von Familien- und Sozialpolitikern aus CDU und FDP ebenso wie Entscheider in den Kommunen – Frauen waren Mangelware – haben sich aber gegen jede grundsätzliche Neueinschätzung von Elternrechten und -pflichten gewehrt, konkret: gegen die Einsicht, dass von mehr gemeinsamer Zeit mit anderen Kindern in der frühkindlichen Bildung wie auch in den ersten vier Klassen alle überproportional profitieren.

Nicht einmal die Wahlfreiheit von Frauen zwischen Beruf und Familie war ernsthaft Thema der politischen Auseinandersetzung im bürgerlichen Spektrum aus CDU, FDP oder Freien Wählern. Frühere Mahnerinnen in der Union, allen voran Rita Süßmuth, wurden lange Zeit nicht ernst genommen. Auch nicht Kurzzeitkultusministerin Marion Schick (CDU) im Kabinett Stefan Mappus, die 2010 versucht hatte, den Ganztag wenigstens aus dem Modellcharakter per Gesetzesänderung in ein Regelangebot zu überführen. Was allerdings an den Hardlinern in ihrer Landtagsfraktion mit dem Frauen- und Familienbild von vorgestern scheiterte. Alexander Throm, früher Land-, inzwischen Bundestagsabgeordneter aus Heilbronn, bedankt sich übrigens noch heute im Netz und sicherlich auch im richtigen Leben bei "unseren Damen der Frauen-Union" für "selbstgebackene Kuchen und Maultaschen".  (jhw)

Noch interessanter ist in der schriftlichen Stellungnahme ein ganz anderer Satz. Klar sei, "dass dabei viele hundert Schulträger leer ausgehen werden und damit vielerorts die Schaffung der erforderlichen Infrastruktur unmöglich wird". Ein Eingeständnis, das sich in Zahlen noch eindrücklicher liest. Denn während in den östlichen Bundesländern fast hundert Prozent der Kinder eine Ganztagsgrundschule besuchen, sind es in Baden-Württemberg gerade mal ein Drittel. "Die Lücke zwischen Bedarf und Angebot ist besonders groß", schrieb die Bertelsmann-Stiftung in einer ihrer regelmäßigen Analysen 2022. Und wenn ab 2029/2030 alle Kinder im Grundschulalter ihren Rechtsanspruch mit einem Umfang von 40 Stunden wöchentlich tatsächlich nutzen, gibt es nicht nur massive Raumprobleme, die das Investitionsprogramm eigentlich beheben soll. Darüber hinaus haben die Bertelsmann-Fachleute für den Südwesten eine Lücke von über 12.000 Fachkräften errechnet.

Auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) nennt neben der kurzen Dauer des gemeinsamen Lernens von nur vier Jahren die Begrenzung der Unterrichtszeiten auf einen halben Tag "im internationalen Vergleich eine Besonderheit". Die wiederum hat deutschlandweit eine lange Geschichte: "Die heutige Form der Grundschule in Deutschland geht im Kern auf den Weimarer Schulkompromiss aus dem Jahr 1920 zurück, denn damals wollten die progressiven Parteien im Deutschen Reich ein Einheitsschulsystem schaffen, was aber politisch kaum durchsetzbar war, sodass man sich auf vier Jahre gemeinsames Lernen in der Grundschule als Minimallösung verständigte."

Die Weichen hätten spätestens in den 1980er-Jahren neu gestellt werden müssen und können. In anderen Bundesländern nahm der Ausbau des Ganztags Fahrt auf, gerade weil die erste Regierung unter Helmut Kohl das bürgerliche Familienbild wieder zementieren wollte. Von einer "konservativen Doktrin der Mütterlichkeit" sprach damals die Tübinger SPD-Bundestagsabgeordnete Herta Däubler-Gmelin und von "der öffentlichen Abwertung der Rolle der Frau". Einerseits, denn andererseits traten im damals noch immer mit absoluter CDU-Mehrheit regierten Baden-Württemberg immer mehr Frauenbeauftragte ihr Amt an, die ausdrücklich nicht Familien-, sondern Frauenbeauftragte sein wollten. Und sie wollten Kinderbetreuung als Elternaufgabe verstanden wissen und forderten deshalb die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Männer wie für Frauen. Landtagsausschüsse und eine Enquêtekommission reisten mehrfach nach Skandinavien oder Frankreich, um sich über den segensreichen Einfluss ganztägiger Angebote zu informieren. Wieder daheim, blieb es aber doch bei alten Geschlechtermustern. Sogar der für seine Liberalität gerühmte Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel (CDU) erteilte der damaligen Frauenbeauftragen ein Sprechverbot, worauf die ihren Hut nahm.

Destruktive Doppelstrategie der Konservativen

Zur Wahrheit gehört, dass vor Ort häufig keine politischen Mehrheiten für jene Parteien bei Wahlen zustande kamen, die sich für mehr Ganztag einsetzten. Und dass CDU wie FDP ordentlich mauerten, als Grün-Rot und die glücklose Ministerin Gabriele Warminski-Leitheußer 2011 den Plan auf den Tisch legten, bis 2020 alle Grundschulen mit einem Ganztagsangebot auszustatten. Wieder eine Wegmarke, denn verabschiedet wurde ein Gesetz mit der Vorgabe, zumindest 70 Prozent umzustellen. "Wenn das heute so wäre", sagt Brugger, "hätte wir heute praktisch keine Probleme."

Selbst daraus wurde nichts, was am Geld lag, aber eben auch am Elternunwillen und an einer bewusst immer weiter geschürten Stimmung gegen die neue Art von Frauen- und von Familienpolitik. Am Stadt-Land-Gefälle hat sich bis heute ohnehin wenig geändert, zumal die grün-schwarze Landesregierung sich in der vergangenen Legislaturperiode allein unter allen 16 Bundesländern für den Sonderweg entschied, dass nachmittägliche Betreuungsangebote mit unter den reichlich vagen Begriff von der Ganztagsgrundschule fallen.

Wenig faktenbasiert ist es angesichts dieser überlangen Vorgeschichte, wenn die kommunalen Spitzenverbände, allen voran wieder der Gemeindetag, über Bande mit der CDU-Fraktion spielen oder offen versuchen, vor allem die zwei hauptbeteiligten, grüngeführten Ministerien – Finanzen und Kultus – in den Fokus zu rücken. Die Strategie ist einfach zu entschlüsseln: Es soll nicht nur gegen die Ampel in Berlin gehen, wiewohl die bundesweit insgesamt Milliarden in den Ganztagsausbau steckt und dem im föderalen System für Bildung zuständigen Ländern damit tatkräftig unter die Arme greift. Es sollen zudem die inzwischen so ungeliebten Grünen im Land in ein schiefes Licht gerückt werden, quasi doppelt auf Teile der Wähler:innen zielend: auf die einen, die von Ganztagsschulen weiterhin nur wenig halten, und auf die anderen, die den Rechtsanspruch in ihrer Gemeinde möglicherweise nicht erfüllt bekommen. Die Gegenoffensive der auch bildungspolitisch in Baden-Württemberg so anhaltend schmerzlich vermissten progressiven Kräften zum Wohle der Kinder und Jugendlichen und künftiger Fachkräfte lässt unterdessen auf sich warten.

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1 Kommentar verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 14.08.2024
    Antworten
    Die sich mit _ihrer_ Verantwortung im STAATSDIENST übernommen haben, damit _ihren AMTSEID_ nicht erfüllen können, weisen wie selbstverständlich jegliche Verantwortung anderen zu [Fn_1] – besonders die in PARTEIEN organisierten!
    Der SWR hat ebenfalls dies beständig wiederkehrende am 08.08.…
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