Es ist gewiss nicht falsch, sie erfrischend zu nennen. Sie lacht gerne, bisweilen auch zu oft, oder gar nicht, wenn das Gespräch auf Palmer kommt. Boris sollte mal "runter vom Pavianhügel", empfiehlt sie und schickt eine Charakterstudie des Gleichaltrigen hinterher, die nicht sehr freundlich ist. Wer glaubt, er könne nicht anders, folgert sie, entschuldige alles, im Zweifel auch die Leichen im Keller. Führungsverantwortung sehe anders aus, sich im Griff haben auch. Sie müsste wissen, wovon sie spricht, sie und Palmer sind befreundet seit Ende der 90er-Jahre, als sie im Wahlkampfteam von Brigitte Russ-Scherer (SPD) und er bei Wolf-Dieter Hasenclever (Grüne) gearbeitet hat. Im Dezember vergangenen Jahres war sie noch zu seiner Hochzeit eingeladen, sie kam nicht, stattdessen die Kandidatur im März, über die ihr Boris "ordentlich beleidigt" gewesen sei. Palmer sagt, er habe jetzt erstmal die Pausentaste gedrückt.
Die Attacke ohne Ansage ist Absicht. Sie zielt auf die Person, den ewigen Provokateur, den Meister des inszenierten Tabubruchs. Entsprechend fällt Sofie Geisels Gegenentwurf aus. Ein "neuer Politikstil" muss her, zuhören statt rechthaben, versöhnen statt spalten, Respekt statt Demütigung. Die Leute würden den "Kopf einziehen", wenn sie ihrem OB begegneten, berichtet die Frau, die fröhlich durch die Gassen zieht, als wären Musikant:innen in der Stadt. "Es geht um Tübingen" steht auf Geisels Wahlplakaten, um bezahlbaren Wohnraum, um Menschen, die draußen bleiben müssen, ums Klima natürlich, um den Verkehr, in dem das Idyll zu ersticken droht.
Aber eigentlich geht es um Boris Palmer, dessen Abwahl, so wird suggeriert, Voraussetzung dafür ist, dass es Tübingen gut geht. Da reibt sich so mancher Sozi die Augen, der erlebt hat, wie in der SPD-Fraktion die politische Harmonie gepriesen wurde. Sprecher Martin Sökler erkannte 90 Prozent Übereinstimmung mit Palmer und seiner grünen Truppe. Da ist schwer, mit Inhalten wahlzukämpfen. Zumal die Schwerpunkte bei Geisel sich wenig von denen Palmers unterscheiden: Wohnen, Klima, Autos raus aus der Stadt.
Heute trägt Lisa Federle den Ruhm nach draußen
Deshalb: 16 Jahre sind genug, und eine Frau muss an die Spitze. Das ist die Losung, auf die sich inzwischen viele einigen können – zwar weitgehend substanzfrei, triggert aber gut, weil jede:r irgendetwas vorzutragen hat, was Palmer ans Bein zu binden ist. Seine Auftritte bei Anne Will, Sandra Maischberger, Markus Lanz ("und dann habe ich dem Robert gesagt…") sind besonders beliebte Beispiele. Vor allem bei den Intellektuellen des Gemeinwesens am Neckarfluss, die sich noch in der Tradition von Ernst Bloch, Hans Küng, Walter und Inge Jens wähnen, und deren Klassiker "Die kleine große Stadt" inhaliert haben. Tübingen, die Heimat der weltbekannten Denker, sei den meisten deutschen Großstädten "geistig überlegen", haben die Jensens geschrieben. Aber heute sind die Geistesgrößen alle tot, stattdessen trägt die Notärztin Lisa Federle in Talkshows den Ruhm nach draußen. Zusammen mit Palmer und dem Schlagersänger Dieter Thomas Kuhn.
Für Federle, die CDU-Mitglied ist und ein Buch ("Auf krummen Wegen geradeaus") geschrieben hat, reichen 16 Jahre nicht. Sie unterstützt den "zupackenden Krisenmanager" genauso wie die Buchhändlerdynastie Riethmüller ("Osiander") und Ex-Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD), woraus zu schließen ist, dass Palmer auch beim Tübinger Adel sozialverträglich ist. Was der Wohlgelittene in aller Bescheidenheit bestätigt: "Viele Leute mit Rang und Namen schätzen meine Arbeit. Sie wissen, dass Tübingen in allen relevanten Feldern an der Spitze deutscher Städte liegt". Bei "der Herta" käme vielleicht noch dazu, dass sie beide eine "Schwertgosch" hätten. Welche Beweggründe die 1.000 weiteren Unterstützer:innen Palmers haben, lässt sich an den Plakaten mit ihren Konterfeis ablesen, die überall in der Stadt hängen. Unter anderem wird die Wiedereröffnung des Bierkellers unter der Mensa gewünscht, aber die hat Palmer bereits abgelehnt.
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am 16.10.2022