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Wer sich gelegentlich auf Twitter herumtreibt, weiß, dass dort neben herzerwärmenden Katzenvideos auch allerlei Unsinn kursiert. Jüngst hat sich auch die Kontext-Redaktion einer gewissen Lässlichkeit schuldig gemacht. Nach akribischer Nachrecherche hat uns der Stuttgarter Stadtsprecher Sven Matis auf eine Übersetzungs-Ambiguität aufmerksam gemacht, die wir natürlich subito korrigieren wollen. Es soll ja keinesfalls der Eindruck entstehen, dass junge Leute nix wie raus aus Stuttgart wollen. Aber der Reihe nach.

Ausgangspunkt ist – wie könnte es anders sein? – wieder einmal das Milliardengrab Stuttgart 21. Genauer gesagt, die Auswirkungen der damit einhergehenden Grabungsarbeiten auf das Erscheinungsbild der Stadt. Für Ortskundige ein alter Hut: Schließlich klaffen die abgrundähnlichen Baugruben nicht erst seit gestern. Wer als Besucher:in nach Stuttgart kommt, ist aber mitunter irritiert über das schiere Ausmaß. So auch Monty-Python-Legende John Cleese, der jüngst in der Landeshauptstadt auftrat und ein Bild aus seinem Hotelzimmer mit Blick auf die Bahnhofsruine postete – mitsamt dem Kommentar, dass er heute dann wohl lieber drinnen bleibt.

Das provozierte verschiedene Reaktionen. Stadt-Sprecher Sven Matis sah sich zu einer Intervention genötigt und wies (den 82-jährigen) Cleese ohne erkennbare Ironie darauf hin, dass der Gast, wenn er länger bliebe, sehen würde, wie sich Stuttgart durch die Tieferlegung der Gleise zum Hauptbahnhof eine Gelegenheit eröffnet, das Rosenstein-Quartier als einen neuen Stadtteil zu entwickeln. Erste Neubauten sind allerdings frühestens 2032 realistisch. Auch wir haben uns eingemischt, und präsentierten dem britischen Comedian weitere Stadtansichten, die ähnlich ansehnlich sind wie das Riesenloch vor dem Bahnhof. Schließlich ist die Darstellung der Stuttgarter Unorte in Text und Bild – vom Neckarufer über die alte Haltestelle Staatsgalerie bis zum Wilhelmsplatz in Bad-Cannstatt – unserer Redaktion ein Herzensanliegen.

Am Ende unserer kleinen Galerie haben wir dann behauptet: "No wonder: The experts from 'skyscanner' rank Stuttgart within the top 3 of Germany's most beautiful cities. However, 80 percent of the young people consider moving away." Zu deutsch: "Kein Wunder: Die Experten von 'Skyscanner' bewerten Stuttgart als eine der drei schönsten Städte in Deutschland – trotzdem erwägen 80 Prozent der jungen Menschen einen …" Ja, einen was denn nun? Da wird die Übersetzung tricky: einen Umzug? Oder einen Wegzug?

Jedenfalls ist Stadt-Sprecher Matis der Behauptung nachgegangen, die auf Daten der Stuttgarter Bürgerbefragung von 2021 basiert. Und er betont: "Die Studie, auf die Sie sich beziehen, beleuchtet die 'Umzugsabsichten' der Stuttgarter und zwischen 'move away' und 'move houses' ist schon ein Unterschied." Später hat er sich sogar beim Autoren der Studie erkundigt, "weil mir die Verifikation wichtig war", und richtet der Redaktion die Antwort aus: "Das ist in der Tat falsch übersetzt. 80 Prozent der jungen Menschen (18 bis unter 30 Jahre) erwägen (möglicherweise) einen Umzug. Also auch innerhalb des Stadtgebiets. Nichts Ungewöhnliches für diese sehr mobile Altersgruppe."

Nun behauptet zwar das größte Online-Wörterbuch der Welt, "move (away)" bedeute "verziehen [in andere Wohnung, Stadt]". Es ist unsererseits also gar nicht explizit behauptet worden, dass die Leute alle weg wollen. Aber natürlich sollte die Pointe im Kontext einer vor Sarkasmus strotzenden Beschreibung grässlicher Stadtansichten darauf hinauslaufen, dass die konsequente Missachtung ästhetischer Prinzipien die Jugend scharenweise aus der Stadt verjagt. Dazu stellen wir fest: Ganz so einfach ist es nicht.

Wohin die Stuttgarter Jugend ziehen möchte, geht aus der Bürgerbefragung nicht genau hervor. Allerdings heißt es dort allgemein: "Von den 45 Prozent der umzugswilligen Stuttgarter*innen (inkl. der Nennung "möglicherweise") wollen 27 Prozent eine andere Wohnung innerhalb der Landeshauptstadt beziehen." Unterstellt, dass es sich bei den Jugendlichen in einer ähnlichen Größenordnung bewegt, wären es also gerade mal sechs von zehn Menschen unter 30, die darüber nachdenken, der Stadt den Rücken zu kehren.

Tatsächlich hat das weniger mit dem Stadtbild zu tun als mit den Mietpreisen, die 86 Prozent der Befragten als Problem bewerten. Allzu schade wäre es, wenn Umzugswünsche innerhalb des Stadtgebiets durch ein mangelhaftes Angebot vereitelt würden, denn bezahlbarer Wohnraum ist rar. Linderung verspricht allerdings die Entwicklung des Rosenstein-Quartiers, das nach der Demontage der Gleise am Hauptbahnhof für Bebauung frei wird und auf dem bis zu 7.500 neue Wohnungen entstehen sollen. Eines Tages. Mit anderen Worten: Wir fiebern den 2030ern entgegen.

Kontext vor Gericht – war da was?

Im Mai 2018 schrieb Kontext-Redakteurin Anna Hunger ihren Artikel "'Sieg Heil' mit Smiley" über rassistische und menschenverachtende Äußerungen eines Mitarbeiters von zwei Abgeordneten, die 2016 für die AfD in den baden-württembergischen Landtag eingezogen sind. Seitdem hängt die Prozesskeule drohend über Kontext. Und nach langer, coronabedingter Verzögerung heißt es am Donnerstag, 13. Oktober vor dem Landgericht Frankfurt mal wieder "Grauf gegen Kontext".

In diesem Hauptsacheverfahren geht es erneut um die Rechtmäßigkeit der Namensnennung. Sowie darum, dass eben dieser Mitarbeiter Marcel Grauf die rassistischen Äußerungen in seinen Facebook-Chats nicht von sich gegeben haben will. Das Oberlandesgericht Karlsruhe sah es im Februar 2019 im einstweiligen Verfügungsverfahren "als hinreichend glaubhaft gemacht, dass die im Rechtsstreit vorgelegten Chat-Protokolle authentisch sind", und sprach Kontext das Recht zu, den Namen des AfD-Mitarbeiters zu nennen.

Diesen Urteilsspruch aus dem Eilverfahren wollten der Kläger und sein Anwalt nicht akzeptieren. Deshalb nun also das Hauptsacheverfahren in Frankfurt. Geladen sind drei Zeugen, die das Gericht zum Chatverlauf mit Marcel Grauf befragen will.

Mit einem Urteilsspruch ist an diesem Donnerstag nicht zu rechnen. Doch wir wollen unsere Leser:innen und die vielen, die Kontext in diesem langwierigen Prozess unterstützen, auf dem Laufenden halten. Wir werden nicht einknicken und weiter dafür kämpfen, dass gesagt werden darf und gesagt werden muss, was ist. Danke an die vielen, die uns dabei über diese lange Strecke unterstützt haben und weiter unterstützen. Ihr seid unser Rückenwind!


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1 Kommentar verfügbar

  • MartinTriker
    am 12.10.2022
    Antworten
    Der Matis ist halt meinungsstark.
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