Dass eine Sozialdemokratin den vermeintlichen grünen Platzhirsch schlagen kann, hat 1998 Brigitte Russ-Scherer bewiesen, als sie Wolf-Dieter Hasenclever knapp, aber doch hinter sich ließ und Oberbürgermeisterin von Tübingen wurde. Jetzt soll das Kunststück eine Neuauflage erfahren – gegen den umstrittenen, aber bundesweit bekannten Promi Boris Palmer. Sophie Geisel, die für die SPD ins Rennen geht, hat einen erfolgreichen roten Stammbaum vorzuweisen: Vater Alfred saß 24 Jahre lang im baden-württembergischen Landtag, 16 davon als Vizepräsident, Bruder Thomas amtierte acht Jahre lang als OB in Düsseldorf. Die 50-Jährige beschreibt sich selbst trotzdem als "SPD-Karteileiche", jedenfalls im Blick auf die vergangenen beiden Jahrzehnte. Bis Tübinger Genoss:innen ihr den Floh ins Ohr setzten, sie könne doch Palmer herausfordern. Den kennt sie seit dem Studium und fügt im Kontext-Gespräch nach kurzer Pause ein bestimmtes "gut" hinzu.
Bei ihrer "Zuhör-Tour" durch alle Teilorte und Bezirke Tübingens hat sie die Stadt neu kennengelernt und erfahren, dass viele Menschen interessiert sind an ihrem Auftreten. "Ich bin nicht zurückhaltend", beschreibt sich die gebürtige Aalenerin, "aber ich kann mich zurücknehmen und zusammenführen." Solche Fähigkeiten werde das nächste Stadtoberhaupt auch brauchen, etwa weil der Streit um die Stadtbahnroute durch die Innenstadt nicht befriedet ist. Im vergangenen Herbst waren – bei einer bemerkenswert hohen Beteiligung von fast 80 Prozent – 57 Prozent der abgegebenen Stimmen gegen die Anbindung des Zentrums an die Regionalstadtbahn Neckar-Alb.
Freuen durften sich jene Initiativen, die davor warnten, dass "unsere Universitätsstadt mit Charme, Geschichte und einzigartigem Stadtbild durch Stahl-Ungetüme mit Betonbahnsteigen, starren Schienen, Oberleitungsmasten und Fahrdrähten plattgemacht wird". Zugleich ist aber unbestritten, dass die Entscheidung das Ziel erschwert, bis 2030 klimaneutral zu werden. Geisel nimmt eine Anleihe beim grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der mit ihrem Vater so lange gemeinsam im Landtag saß: Die "Politik des Gehörtwerdens" findet sie nachahmenswert, "damit konnte Kretschmann das Land verändern". Und das habe sie durchaus selbst im fernen Berlin vernommen.
Nur sechs von hundert OBs sind Frauen
Die Hauptstadt ist der Lebensmittelpunkt der Familie. Nach mehreren beruflichen Stationen, darunter bei der Unternehmensberatung Roland Berger, ist sie beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) Mitglied der Hauptgeschäftsführung. Die Erfahrungen in Moderation und Teamarbeit will sie ins Tübinger Rathaus tragen, um aus der Stadt einen Ort des Dialogs zu machen. Ebenso wichtig ist ihr das Thema Gleichstellung. Erstens sei hier gerade in der Kommunalpolitik "der Weg noch sehr weit" (in Baden-Württemberg sind nur sechs der gut hundert Oberbürgermeister Frauen). Und zweitens stelle sie sich dem so oft gehörten Vorwurf entgegen, zu wenige Frauen interessierten sich für die Arbeit in den Räten. Geschickt, so urteilen jedenfalls Begleiterinnen auf der Zuhör-Tour, verstehe die Herausforderin "als Politikerin aufzutreten und in freundlichem Ton ihre Kritik loszuwerden, ohne Palmer beim Namen zu nennen".
2 Kommentare verfügbar
ewald koenig
am 01.07.2022"Politik des Gehörtwerdens" findet Sofie Geisel nachahmenswert. Originäre Sicht- und Handlungsweisen, die zukunftsweisend Wähler- und Verfassungsauftrag erfüllen,
sollten Maxime sein. Abgesehen davon: Diese…