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OB-Wahl in Tübingen

Grüne gegen Grüne

OB-Wahl in Tübingen: Grüne gegen Grüne
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In Tübingen tritt Deutschlands bekanntester Oberbürgermeister gegen die eigene Partei an. Ulrike Baumgärtner will Nachfolgerin von Boris Palmer werden – und wünscht sich viele Macherinnen und Macher in der Stadt, nicht nur einen an der Spitze.

Man müsse "nur die Augen aufmachen", konstatiert Franz Untersteller, der sich eigentlich aus der Politik zurückziehen wollte. Nachdem er 2015 als Umweltminister Baden-Württembergs erklärte, dass ein neuer Block für Kohlekraft am Mannheimer Großkraftwerk zur Energiewende beitrage, heuerte er zum Jahresbeginn, acht Monate nach dem Ende seiner Amtszeit, als Berater beim Miteigentümer und Stromversorger MVV an. Seitdem war es ruhig um ihn geworden. Weil seine Frau aus Tübingen stammt, wie er zu Beginn seiner Wortmeldung betont, macht er jedoch eine Ausnahme von der Politikabstinenz und gibt seinen grünen Parteifreundinnen und insbesondere Parteifreunden die Handreichung, sich "schnellstens zusammenzuraufen und sich auf den Kandidaten zu einigen, der die OB-Wahl tatsächlich gewinnen kann".

Eine Altherrenriege, ein Zirkel um Franz Untersteller und Winfried Kretschmann, fühle sich von ihrer Kandidatur angegriffen, kontert Ulrike Baumgärtner, die im Herbst die Nachfolge von Boris Palmer antreten will. Doch schon viele Monate vor der Wahl schlagen die Wellen hoch, in und außerhalb der Stadt. Lange Jahre war mit dem Amtsinhaber ein kultivierter Streit möglich, sagt die 42-Jährige gegenüber Kontext. Inzwischen habe sie den Eindruck, dass sich das mit ihrer Bewerbung geändert habe. Etwa wenn sie von Palmer und seinen Unterstützern als Windkraftgegnerin dargestellt werde, weil sie für das mögliche Bebauungsgebiet Rammert die Ergebnisse der Gutachten zu Biodiversität und Artenschutz in den Abwägungsprozess einbeziehen möchte. "Schade, wie hier Stimmung gemacht wird." Persönliche Gespräche habe Palmer zuletzt abgelehnt.

Ihr Verhältnis zu Palmer ist die Geschichte einer Entfremdung auf Raten. 2006, nach Abschluss ihres Studiums, war Baumgärtner sogar Mitarbeiterin in seinem Landtagsbüro, später sind sie in der Kommunalpolitik lange Zeit gut miteinander ausgekommen. Doch als Soziologin und Literaturwissenschaftlerin ist sie für Sprache sensibilisiert und gehört zu den Grünen, für die mit Palmers wiederholten verbalen Entgleisungen eine rote Linie überschritten ist. "Sprache schafft Wirklichkeit", sagt sie.

Und wenn der Oberbürgermeister in seiner unverkennbaren Art fordert, im Botanischen Garten, dem schönsten Park Tübingens, schwerpunktmäßig gambische Gruppen zu kontrollieren, als ob deutsche Studierende noch nie einen Joint geraucht hätten, hält sie es für unlauter, wie dabei die Ebenen Drogen und Asyl verquickt werden. Als der Verwaltungsgerichtshof Mannheim vor wenigen Wochen die Tübinger Verpackungssteuer für rechtswidrig erklärte, durfte bei Palmers Ärger über die Entscheidung der kleine Exkurs nicht fehlen, wie "zuletzt der Dönerfall in Stuttgart drastisch gezeigt" habe, dass Steuerzahlungen gerne mal unterlaufen werden.

Girlanden um den verdeckten Zweikampf

Während insbesondere jüngere Generationen bei den Grünen mit Palmers Rhetorik und seiner Art, Beispiele auszuwählen, Probleme haben, gibt es bei den Tübingerinnen und Tübingern viele, die Palmer für seine lokalpolitische Arbeit schätzen, darunter auch Stadträte, die ihn trotz eines laufenden Parteiausschlussverfahrens im Wahlkampf unterstützen (Kontext berichtete). Bei der Urwahl zur grünen Kandidatur trat Baumgärtner nominell als einzige Bewerberin an. Und obwohl sie nur 149 Ja- von 287 abgegebenen Stimmen erhielt, spricht sie von einem eindeutigen Ergebnis, mit dem sie zufrieden ist. Wie das zusammenpasst?

Ausgabe 569, 23.2.2022

Der doppelte Palmer

Von Minh Schredle

Klassenbester beim Klimaschutz und prosperierende Finanzen: Tübingen unter Boris Palmer könnte als Aushängeschild für ökologisches Wachstum dienen – wären da nicht seine rhetorischen Ausfälle. So bleibt eine Entfremdung zwischen der lokalen Basis und der grünen Landesspitze.

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Baumgärtner geht davon aus, dass die zahlreichen Nein-Stimmen weniger Stimmen gegen sie sind als welche für Boris Palmer. Der hatte sich entschieden, nicht zur internen Abstimmung bei den Grünen antreten zu wollen, weil das nicht zum Ausschlussverfahren passe. Vorstandsmitglied Marc Mausch habe ihn aufgefordert, schrieb Palmer im Vorfeld an den Stadtvorstand und auf Facebook, "dass ich die Wahl annehme, falls mein Name mehrheitlich im Freifeld notiert wird". Das könne er nicht tun, da er eine verdeckte Kandidatur für unlauter hielte. Als überparteilichem Kandidaten sei ihm aber selbstverständlich jede Unterstützung aus dem demokratischen Spektrum willkommen, also sehe er "auch keinen Grund, ausgerechnet meiner eigenen Partei zu sagen, dass ich ihre Unterstützung nicht annehmen würde".

Die Polarisierung der Tübinger Basis verdeutlicht sich auch daran, dass sich die grünen Gruppierungen daraufhin für unterschiedliche Vorgehensweisen entschieden haben. Einmal gibt es den Stadtverband der Partei, der nur Stimmen für Kandidatinnen und Kandidaten zählen wollte, die auch zu einer Kandidatur bereit sind. Demnach waren Stimmen für Boris Palmer auf dem Freifeld ungültig. Bei der Alternativen Liste (AL), die im Gemeinderat eine gemeinsame Fraktion mit den Grünen bildet, waren Stimmen für den Amtsinhaber hingegen zulässig.

Bei den Grünen kam Baumgärtner auf 55 Prozent – was laut dem Außenstehenden Franz Untersteller nur "durch einen Taschenspielertrick, 14 Stimmen für Boris Palmer als ungültig zu erklären", möglich war. Von den 39 Mitgliedern, die bei den Alternativen abgestimmt haben, schrieben 24 Boris Palmer auf ihren Stimmzettel, 15 waren für Ulrike Baumgärtner (verkompliziert wird die Gemengelage dadurch, dass eine Doppelmitgliedschaft bei den zwei Gruppen und damit die mehrfache Stimmabgabe möglich ist). Der Amtsinhaber referiert daraufhin auf Facebook "nur die einfachen Tatsachen", nämlich dass es nun eine Kandidatin gebe, "die von den Grünen unterstützt wird und einen Kandidaten, der von der AL unterstützt wird". Sein Profilbild ändert er in der Folge in einen kleinen Maulwurf, der freudestrahlend die Nasenspitze gen Himmel reckt – das Logo der AL.

Baumgärtner sagt, sie wäre glücklicher damit gewesen, wenn sich Palmer nicht der Abstimmung entzogen hätte, spricht von einem offenen Rennen und verweist darauf, dass sie bei drei von vier Kommunalwahlen Stimmenkönigin geworden ist, was sie als Bestätigung ihrer Person und ihres Stils sieht.

Umweltschutz bedeute mehr als niedrige CO2-Bilanzen

Insgesamt 13 Jahre lang hat Baumgärtner bereits Ämter in der Tübinger Lokalpolitik ausgeübt, davon sechs als grüne Fraktionsvorsitzende im Gemeinderat. "Damit habe ich mehr Erfahrung in der Kommunalpolitik, als Boris Palmer bei seinem Amtsantritt hatte." An der Reutlinger Hochschule war sie Referentin für Ethik und nachhaltige Entwicklung, aktuell schult sie als Trainerin bei der Heinrich-Böll-Stiftung Aspirantinnen und Aspiranten für das Bürgermeisteramt. "Uns geht es darum, vor allem Frauen zu ermutigen und zu stärken, den Schritt in kommunale Spitzenämter zu wagen." Während sie dem Amtsinhaber viele Erfolge nicht absprechen will, wird deutlich, dass sie andere Vorstellungen hat, wie eine Stadtverwaltung geleitet werden könnte. "Was Tonfall und Führungsstil angeht, möchte ich einen Gegenentwurf anbieten."

So sei Palmer stolz auf seinen Ruf als Macher. "Es braucht aber viele Macherinnen und Macher, nicht nur einen an der Spitze. So entstehen tragfähige und abgestimmte Lösungen", sagt sie. Für eine sozialökologische Transformation wäre eine Bewegung als Gemeinschaftsarbeit nötig. Und die Bürgerbeteiligung in Tübingen hält sie durchaus für ausbaufähig: Es sollte dabei um mehr gehen, als die Stadtbewohnerinnen und -bewohner über ohnehin Geplantes zu informieren, nämlich um wirklich ergebnisoffene Prozesse.

Bei der ökonomischen Entwicklung in Tübingen will Baumgärtner Tempo rausnehmen. Der Schutz von Klima und Umwelt bedeute mehr als nur CO2-Bilanzen zu reduzieren: etwa eine Ernährungswende in den städtischen Kantinen, mehr Fassadenbegrünungen und insektenfreundlichere Areale, weniger Versieglung von Grund und Boden. Und bevor das nächste Mal Flächen an Amazon oder Porsche vergeben werden, würde sie gerne prüfen, ob dort nicht Wohnungen wichtiger sein könnten als Gewerbe.

"Zwischen Verbotsregimen und Wachstumswahn"

Während die Wirtschaft in keiner Stadt des deutschen Südwestens schneller wächst als in Tübingen, unterstellt Baumgärtner, dass dabei der soziale Komplex vernachlässigt werde. "Auch in unserer Stadt gibt es ein massives Personalproblem bei der Erziehung und Altenpflege." Sie will die Stadtteiltreffs stärken und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern, sagt sie. Und in ihrer Bewerbungsrede für die Urwahl nannte sie es eine privilegierte Situation, in eine freie, demokratische Wahl gehen zu können und dabei als Grüne und Alternative in Tübingen so stark aufgestellt zu sein, "dass gleich zwei Persönlichkeiten aus unseren Reihen das Zeug dazu haben, im Herbst an die Spitze dieser wunderbaren Stadt gewählt zu werden".

Sie komme aus der Bildung für nachhaltige Entwicklung, betont sie. "Seit 50 Jahren wissen wir, dass unser Planet die Art unseres aktuellen Wirtschaftens nicht aushält. Durch den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine hat sich die Ressourcenfrage für uns noch dramatisch verschärft. Wer, wenn nicht wir im innovativen, grün-alternativen Tübingen findet gelingende und tragfähige Wege zwischen Verbotsregimen und Wachstumswahn?"

Es gehört wohl zu den Kuriositäten, an denen im Tübinger Wahlkampf nun wirklich kein Mangel herrscht, dass die etablierten Parteigrünen mehrheitlich für Baumgärtner stimmten und die Alternativen für den Kandidaten, der zwischen endlosem Wachstum und intakter Natur keinen Widerspruch sieht.


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4 Kommentare verfügbar

  • Nik
    am 23.04.2022
    Antworten
    Ich würde Boris Palmer wählen. Denn wenn der "neue Ton" nur heißt, dass man für jede Äußerung, die nicht die "political correctness" erfüllt oder nicht ganz zuende gedacht wird, medial durchs Fegefeuer geschickt werden kann, dann gute Nacht. Überspitzung ist ein wichtiges Stilmittel der Sprache:…
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