KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Boris Palmer

"Wir müssen uns warm anziehen"

Boris Palmer: "Wir müssen uns warm anziehen"
|

Datum:

Ein Grüner, der sich für eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke einsetzt? Für den Tübinger OB ist das kein Problem – und auch keine Scheindebatte. Ein Gespräch mit Boris Palmer über eine drohende industrielle Kernschmelze und kältere Schulen und Hallenbäder.

Herr Palmer, bald beginnt die heiße OB-Wahlkampfphase in Tübingen. Gegenüber Ihren Mitbewerberinnen haben Sie schon jetzt durch bundesweite Schlagzeilen gepunktet: Als erster Promi der Grünen, der einstigen Anti-Atom-Partei wohlgemerkt, haben Sie längere Laufzeiten für die verbliebenen drei Atomkraftwerke in Deutschland ins Spiel gebracht. Die grüne Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt nennt dies eine Scheindebatte.

Im OB-Wahlkampf braucht man alles, nur keine bundesweiten Schlagzeilen. Meine grüne Gegenkandidatin in Tübingen hat sofort erklärt, dass sie solche Debatten nicht führen wolle. Ich mische mich nicht aus taktischen, sondern aus inhaltlichen Motiven ein, um die Debatte wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Nämlich, wie wir durch den Winter kommen, ohne die Industrie vom Gas abzutrennen und welche Rolle dabei auch Atomkraftwerke spielen können.

Die FDP will die Hochrisikotechnologie inzwischen bis 2024 laufen lassen. Bayerns CSU-Ministerpräsident Söder verlangt, dass fünf weitere Jahre Atomstrom aus der Steckdose kommt. Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Stefan Wolf, will sogar neue Atomkraftwerke. Da scheinen Sie zur Freude der Atom-Lobby einiges losgetreten zu haben.

Boris Palmer ist seit 2007 Oberbürgermeister der Universitätsstadt Tübingen und noch viel länger, nämlich seit 1996, Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Bundesweit bekannt wurde der heute 50-Jährige während der "Schlichtung" zu Stuttgart 21 im Jahr 2010, wo er für die Projektgegner sprach. Palmer vertrat mehrfach konträre Positionen zur Grünen-Parteilinie, etwa in der Flüchtlings- und Migrationspolitik – und aktuell in der Diskussion über AKW-Laufzeitverlängerung. Während der Corona-Pandemie kritisierte er bestimmte Schutzmaßnahmen. Nach einem Facebook-Post im Mai 2021, in der er Äußerungen zweier Ex-Fußballnationalspieler kommentierte, wurden Rassismusvorwürfe aus seiner Partei gegen ihn laut. Der "Negerschwanz"-Skandal führte zu einem Parteiordnungsverfahren mit dem Ergebnis, dass Palmers Parteimitgliedschaft bis Ende 2023 ruht. Bei der OB-Wahl in Tübingen am 23. Oktober tritt Palmer als parteiloser Kandidat an gegen die Grüne Ulrike Baumgärtner und Sofie Geisel von der SPD.  (jl)

So mächtig bin ich nicht. Im Übrigen ist das der Versuch, eine Debatte dadurch zu zerstören, indem man sie komplett von der Wirklichkeit abtrennt und irgendwelche ideologische Vorschläge darüberstülpt. Mein Vorschlag hat damit gar nichts zu tun. Ich weise darauf hin, dass uns wegen des Gasmangels eine industrielle Kernschmelze droht, und schlage vor, die Stromerzeugung aus Erdgas deutlich zurückzufahren. Dadurch entsteht ein Stromausfall, der sinnvoll durch Atomkraftwerke kompensiert werden könnte. Nur in diesem einen Winter würde ich deshalb eine Laufzeitverlängerung gerade noch für vertretbar halten. Alles andere ist natürlich vollkommen abwegig.

Wegen der aufgeregten Diskussion, woher wir jetzt Öl und Gas bekommen, gerät eine viel größere Krise fast in Vergessenheit: die Klimaerwärmung, die gerade durch fossile Energieträger angeheizt wird. Sind Flüssiggasterminals und reaktivierte Kohlekraftwerke nicht die exakt falsche Strategie, um die Klimakatastrophe noch zu verhindern?

Wir müssen unterscheiden zwischen kurz- und langfristigem Zeitraum. In den nächsten zehn Monaten sind wir leider noch abhängig von russischem Gas, und wir können in dieser Zeit auch keine zusätzlichen Windräder und Solaranlagen bauen, weil in Deutschland Genehmigungen bis zu zehn Jahre dauern. Mein Vorschlag: Gasverstromung deutlich zurückfahren, Blockheizkraftwerke auf Öl umstellen und den daraus entstehenden Strommangel wie gesagt durch etwas verlängerte AKW-Laufzeit im "Streckbetrieb" kompensieren. Parallel arbeitet Tübingen daran, bis 2030 klimaneutral zu werden. Der Beschluss ist schon zwei Jahre alt. Wir haben gerade die größte PV-Freiflächenanlage in der Stadtgeschichte auf den Weg gebracht. Sie hat 10 Megawatt Leistung und damit zehnmal so viel wie die bisher größte Anlage. So müssen wir vorgehen. Es muss also gelingen, Erdgas, Atomstrom und mittelfristig auch Kohlestrom vollständig durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Das ist unsere Aufgabe.

Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht gerade im grün regierten Baden-Württemberg nur schleppend voran. Warum hört man dazu nichts von Ihnen?

Vielleicht, weil man nicht zuhört. Ich hab eigens Ministerpräsident Kretschmann im April nach Tübingen eingeladen, um die derzeit größte Solaranlage in der Stadt anzuschauen, die in einer Bundesstraßenauffahrt steht. Ich habe ihm persönlich vorgetragen, dass der Planungsvorlauf acht Jahre und die Bauzeit acht Wochen war – und aus welchen Gründen es zu solchen Verzögerungen kommt. Ich habe auch Vorschläge gemacht, wie sich durch Standardisierung und Gesetzesvorhaben diese Planungszeit reduzieren lässt. Ganz konkret bin ich der Meinung, dass alle Autobahnauffahrten per Landesgesetz zur Solarfläche umgewidmet werden sollten. Denn da steht sicher nichts, was einer PV-Nutzung entgegensteht.

Auch bei der Energieeffizienz passiert außer Appellen, kürzer zu duschen und Gasthermen zu warten, gefühlt nicht viel. Während Spanier per Gesetz im Winter frieren sollen, gibt es hierzulande einen Aufschrei, wenn Wohnungsunternehmen die Heizung nachts absenken wollen, um Gas zu sparen. Braucht es da striktere Vorgaben von Bund und Land?

Im kommenden Winter müssen wir uns warm anziehen, wenn wir die Temperatur aller beheizten Gebäude um drei Grad runter kriegen, dann könnte das ausreichen, um Gasabschaltungen für die Industrie zu vermeiden. Für die Stadt Tübingen haben wir schon Beschlüsse für die Hallenbäder getroffen, wir nehmen die Temperaturen runter. Und wir haben auch schon mit den Schulen gesprochen, dass sie wie andere öffentliche Gebäude in diesem Winter weniger beheizt werden. Das muss jetzt einfach so sein.

Laut aktuellem Deutschlandtrend finden 61 Prozent der Befragten ein befristetes Tempolimit auf Autobahnen richtig. Sie auch?

Ein Tempolimit hilft uns in der Gaskrise nur wenig, da wir bekanntlich Benzin oder Diesel in den Tank füllen. Aber für den Schutz des Klimas ist es natürlich von Vorteil.

Bald steht wieder Weihnachten vor der Tür – mit jeder Menge stromfressender Lichterketten als Weihnachtsdeko. Gibt's heuer ein dunkles Tübingen zur Bescherung, um kostbare Energie zu sparen?

Kann sein. Das ist zwar nur eine Symboldebatte, aber Symbole sind durchaus auch relevant, um allgemein auf die Notwendigkeit des Sparens aufmerksam zu machen. Aber entschieden ist darüber noch nicht. Das Problem ist gerade, dass wir zu oft über Symbolisches reden und nicht über die wirksamen Sachen. Diese müssen zuerst angegangen werden.

Auslöser der Energiekrise ist der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Deutschland liefert nach langem Hin und Her schwere Waffen in das überfallene Land. Der grüne Landesverkehrsminister Winfried Hermann lehnt dies ab und plädiert wie manche Intellektuelle für Verhandlungen. Welche Haltung haben Sie?

Ich fühle mich da nicht wirklich kompetent. Weder kann ich Putins Absichten verstehen noch weiß ich, welche westliche Reaktionen das Ziel, wieder Frieden herzustellen, am besten erreichen könnten. Ich verstehe Winfried Hermanns Position, verstehe aber auch die von Winfried Kretschmann – und halte mich da raus. Ich fühle mich viel kompetenter, als Aufsichtsratsvorsitzender der Stadtwerke Tübingen darauf aufmerksam zu machen, dass wir das große Potenzial nicht nutzen, kein Gas mehr in der Stromerzeugung und in den Fernwärmenetzen einzusetzen. Darum geht's mir.

Auch die Tübinger Stadtwerke haben massive Gas- und Strompreiserhöhungen angekündigt. Wie sollen Menschen mit geringem Einkommen die nächste Energierechnung bezahlen?

Bisher haben wir die Strom- und Gaspreise nicht erhöhen müssen, weil wir sehr langfristig einkaufen. Das hat für die Betriebe und die Stadtgesellschaft eine große Ersparnis gebracht. Im Oktober wird eine Erhöhung um etwa 50 Prozent nötig. Das können wir als Stadt nicht abfedern. Solche Entlastungsprogramme können nur Bund und Länder finanzieren. Wir sollten auch nur bei einkommensschwachen Haushalten abfedern. Denn ohne Preissignal werden die Leute in diesem Winter auch nicht anfangen zu sparen. Wer es sich leisten kann, sollte das Preissignal spüren, um die Heizung etwas herunterzudrehen.

Putin dreht den Gashahn zu, um den Westen zu schwächen. Mit Erfolg: Die Inflation galoppiert, Betriebe drosseln die Produktion, Büros und Wohnungen bleiben wohl kalt. AfD und Rechte schüren die Unzufriedenheit über die Sanktionen gegen Russland. Was ist zu tun, damit es nicht zu sozialen Unruhen kommt, vor denen in vielen Medien bereits gewarnt wird?

Am besten, indem man diese nicht herbeiredet. Ich kann in Tübingen keine Anzeichen für soziale Unruhen erkennen. Auch von der AfD ist hier nichts zu bemerken. Wir müssen einfach ganz ruhig und sachlich möglichst schnell weg von unseren fossilen und atomaren Abhängigkeiten. Dafür habe ich in den letzten 16 Jahren konsequent gearbeitet. Nicht umsonst ist Tübingen führend beim Klimaschutz. 40 Prozent weniger CO2 in meiner Amtszeit sind eine klare Sprache.

Da war noch was: Corona. Tübingen ist einen bundesweit beachteten Weg zwischen Schützen und Lockern gegangen. Die Bundesregierung hat gerade das Infektionsschutzgesetz auf den Herbst hin aktualisiert. Wie kommen wir durch den dritten Pandemie-Winter?

Da fehlt mir auch die Glaskugel. Ich weiß nicht, was da auf uns zukommt. Bleibt Omikron, ist mein Eindruck, dass das Gesundheitssystem damit klarkommt. Auch wenn wir viele Ausfälle am Arbeitsplatz befürchten müssen. Eine neue Variante könnte aber alles ändern. Da kann ich als Oberbürgermeister wenig Sinnvolles beitragen. Die Zeit für Modellversuche und neue Wege ist auch vorbei. Nach mehr als zwei Jahren Pandemie ist ja bekannt, welche Handlungsmöglichkeiten bestehen.

Im Oktober wollen Sie zum dritten Mal zum Tübinger OB gewählt werden. Was reizt Sie noch an dem Job?

Das wichtigste Ziel habe ich in meiner Antrittsrede nach der ersten Wahl in 2007 erklärt, nämlich Tübingen klimaneutral zu machen. Damals mit Unterstützung des leider früh verstorbenen Hermann Scheer. Tübingen ist dabei so gut vorangekommen und hat ein so ehrgeiziges Programm beschlossen, dass ich gerne mit meiner Erfahrung und Führungsstärke weiter daran mitarbeiten möchte, dieses Ziel zu erreichen. In 2030 klimaneutral zu sein, ist extrem ehrgeizig, aber machbar – und das motiviert mich.

Falls das nächste Tübinger Stadtoberhaupt nicht Boris Palmer heißt – haben Sie einen Plan B?

Nein, habe ich nicht. Darüber mache ich mir jetzt keinen Kopf. Ich bin gerade fünfzig geworden und müsste mir halt etwas Neues überlegen.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


5 Kommentare verfügbar

  • Claudia Heruday
    am 12.08.2022
    Antworten
    Wie kommt der Interviewer denn darauf: "...Winfried Hermann lehnt dies (Waffenlieferungen) ab und plädiert wie manche Intellektuelle für Verhandlungen."
    Nur Intellektuelle sind für Verhandlungen? So ein Quatsch. Diesen "manchen" wird halt zugehört von den Intellektuellen in den Medien, den vielen…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!