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Mobilitätswende

Der Umbau ist Arbeit

Mobilitätswende: Der Umbau ist Arbeit
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Beim Kampf fürs Klima ist der Verkehr das größte Problemkind der Bundesrepublik: Die Emissionen steigen ebenso wie die Zahl der Autos. Im Stuttgarter Gewerkschaftshaus präsentierte die Rosa-Luxemburg-Stiftung Strategien für einen Spurwechsel. Viele gute Ideen stießen auf überschaubares Interesse.

Mario Candeias erinnert sich noch, dass er vor gut zehn Jahren schon einmal über die Krise des Autos und die Perspektiven einer grünen Transformation referiert hat. Eingeladen hatte ebenfalls die Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), das Thema lockte 700 Leute an und schon damals lagen Konzepte auf dem Tisch, wie sich die Mobilität in der Bundesrepublik umweltverträglicher gestalten ließe. Dann kam die Abwrackprämie, das Schienennetz der Deutschen Bahn hat sich in der Zwischenzeit verkleinert, die Emissionen im Verkehr sind weiter gestiegen, die Zahl der PKWs auf den Straßen hat immer neue Rekorde gebrochen, neuerdings sind wir beim Tankrabatt angelangt und noch nicht mal ein Tempolimit ist drin. "Der Fortschritt ist eine Schnecke", urteilt Politikwissenschaftler Candeias und betont, dass in Zukunft mehr gehen muss.

Im Stuttgarter Gewerkschaftshaus plante die linke Rosa-Luxemburg-Stiftung vergangenen Samstag mit knapp 100 Interessierten den Spurwechsel: weg von der Vormacht des Autos und hin zu einem attraktiven ÖPNV, der günstig und, wie Candeias sagt, perspektivisch kostenlos sein soll. "Dass ein Umbau erfolgen muss, ist allen klar", findet er, und das spreche sich inzwischen auch in den Betrieben der Autoindustrie herum, wo er an einer Beschäftigtenbefragung beteiligt war. Größter Knackpunkt sind dabei natürlich die Arbeitsplätze, die in der Republik und in Baden-Württemberg ganz besonders vom motorisierten Individualverkehr abhängen.

Für Candeias ist dabei eine "einfache Annahme" wichtig, "die in den Debatten aber überhaupt nicht präsent ist". Dass es auch in Zukunft eine produzierende Industrie braucht, sei für ihn völlig klar, "nicht einfach weg damit, aber anders muss sie sein". Mit Blick auf eigene Studienergebnisse sagt er: "Der Umbau schafft mehr Beschäftigung als er beseitigt." Dafür müsse eine Mobilitätswende allerdings umfangreicher gedacht werden als nur Verbrenner mit Elektroautos austauschen zu wollen. Für eine Verdopplung der Fahrgäste im Schienenverkehr, wie sie etwa der Bundesregierung nach eigenen Bekundungen vorschwebt, bräuchte es laut Candeias eine verbesserte Infrastruktur, neue Signaltechnik, weitaus mehr Fahrzeuge und mehr Personal. Bis zu 450.000 neue Arbeitsplätze könnten im Zuge der Mobilitätswende entstehen, sagt er, damit wäre sogar eine Halbierung der Autoindustrie überkompensiert.

Und noch ein Aspekt ist Candeias wichtig, der bis 1998 bei den Grünen war, ein gutes Jahrzehnt später der Linken beitrat und heute das Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS leitet. "Ein neuer Produzent:innenstolz." Denn bislang gebe es eine hohe Identifikation zwischen den Arbeiter:innen in der Autoindustrie und den von ihnen hergestellten Produkten. Und in der Tat seien viele technische Finessen beeindruckend. "Aber wir müssen jungen Ingenieur:innen stärker vermitteln: Beiträge zu einer nachhaltigen Mobilität – das sind gesellschaftlich unverzichtbare Tätigkeiten, absolut notwendig, um künftigen Generationen eine intakte Umwelt zu hinterlassen." Dabei mitzumachen hält Candeias für deutlich attraktiver als für optimierte Margen den nächsten SUV planen zu müssen.

Die Lufthansa-Rettung zeigt, wie es nicht geht

"Wir brauchen eine Nachhaltigkeitsrevolution, drunter geht’s nicht", findet der Soziologe Klaus Dörre, "aber dafür brauchen wir Mehrheiten." Für ihn ist der Handlungsdruck angesichts der eskalierenden Klimakrise so ernst, dass er nicht auf Maximalforderungen beharren will: "Jede Maßnahme, die auch nur eine Chance hat, zum Besseren beizutragen, braucht Unterstützung." Dennoch will Dörre, nach eigenen Worten ein parteiloser Sozialist, breitere Debatten über mehr Mitbestimmung von Arbeiter:innen in ihren Betrieben bis hin zur Vergesellschaftung. "Die demokratische Zivilgesellschaft braucht mehr Einfluss auf die Frage, was wie wozu produziert wird."

Wenn die Entscheidung allein dem Markt überlassen bleibt, geht der Trend bei den deutschen Autobauern gerade hin zum hochpreisigen Luxussegment – und trotz üppig bezuschusster E-Auto-Käufe ist ein flächendeckender Umstieg angesichts des viel zu niedrigen Lohnniveaus der unteren Einkommensklassen so nicht zu schaffen.

Ein Paradebeispiel, wie es nicht laufen soll, ist für Dörre das Desaster der Lufthansa-Rettung: "Da hat der Staat Milliarden in die Hand genommen, es ist eine öffentliche Investition – und trotzdem wurde auf ein Mitspracherecht verzichtet." Dann wurden reihenweise Mitarbeiter:innen rausgeworfen und jetzt hat man den Salat: ein riesiges Chaos an den Flughäfen. Dörre will keine zentralisierte Planung im staatssozialistischen Sinne, "da haben die Erfahrungen gezeigt, dass es nicht gut läuft". Aber "kollektives Selbsteigentum" für die Beschäftigten, die so mehr Einfluss auf die Ziele des Unternehmens, für das sie sich verausgaben, bekommen sollen.

Geschlossene Gesellschaft

Zwischen den Vorträgen der insgesamt acht Stunden langen Konferenz gibt es Raum für Beiträge aus dem Publikum, die manchmal Fragen und manchmal Statements sind. Ein großer Teil der sich zu Wort meldenden ist bei der Linken aktiv. Elwis Capece etwa, Landessprecher in Baden-Württemberg und Gewerkschaftssekretär bei der NGG, findet, es sei ein Unding, wie viel Lebensmittel – und Güter im Allgemeinen – nicht auf der Schiene, sondern in LKWs transportiert werden. Ursel Beck, kommunalpolitisch aktiv bei Mieterinitiativen Stuttgart, hält es für falsch, das ebenfalls umweltschädliche E-Auto als Alternative zum Verbrenner darzustellen, "da muss man doch nicht mitmachen", sondern lieber ganz auf den Ausbau des ÖPNV setzen. Bernd Riexinger, ehemaliger Parteivorsitzender der Linken und früherer Verdi-Gewerkschaftssekretär, sagt, gute Ideen gebe es schon lange, jetzt wären riesige Investitionen nötig: "Das 9-Euro-Ticket würde für ein ganzes Jahr etwa 10 Milliarden Euro kosten. Wenn es möglich ist, für Aufrüstung Sondervermögen einzurichten, muss das doch erst recht für den Erhalt menschlicher Lebensgrundlagen gehen."

"Liebe Leute, träumt weiter", sagte Irene Kamm, SÖS-Bezirksbeirätin in Stuttgart-Sillenbuch, die zwar für viele Ideen Sympathien hat, aber sich darüber ärgerte, dass auch über Konzepte wie Kollektivierung und Vergesellschaftung diskutiert wurde. "Die Linke am Abgrund, kommt mal zur Realität zurück und versucht, machbare Mehrheiten zu suchen."

Angesichts der überschaubaren Beteiligung und vielen leer gebliebenen Stühlen erscheint die Frage nach dem gesellschaftlichen Durchdringungsgrad durchaus berechtigt. Der Handlungsdruck in der Klimakrise ist hoch wie nie, die Konzepte des liberal geführten Bundesverkehrsministeriums wirken kaum geeignet, eine grundlegende Verkehrswende einzuleiten. Doch der Linken und der RLS gelingt es an diesem Wochenende nicht so recht, mit ihren – teils überzeugenden, aber altbekannten – Ideen neue Kreise zu erreichen. Von ein paar Ausnahmen abgesehen ist das Publikum der um Diversität bemühten Partei im repräsentativen Schnitt alt, weiß und männlich. Und auch wenn andere Staaten bei der nachhaltigen Mobilität viel weiter sind und als Vorbilder dienen könnten, blieb die Auswahl von Referent:innen wie auch von Inhalten fast ausschließlich deutsch.


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8 Kommentare verfügbar

  • Stefan Dreher
    am 10.07.2022
    Antworten
    Klaus Dörre: "Jede Maßnahme, die auch nur eine Chance hat, zum Besseren beizutragen, braucht Unterstützung."
    Irene Kamm: "Die Linke am Abgrund, kommt mal zur Realität zurück und versucht, machbare Mehrheiten zu suchen."
    Die Kombination dieser Aussagen bieten m.E. den strategischen Ansatz!
    Selbst…
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