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Kostenloser Nahverkehr: Einfach einsteigen
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Nach der Tarifreform von 2019 stehen beim Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) erneut Preiserhöhungen an. Die Städte Heidelberg und Tübingen verfolgen ein ganz anderes Ziel: Sie wollen den Nahverkehr in der Stadt gebührenfrei machen.

Statt früher über 50 Tarifzonen gibt es im VVS, in dem auch die Landkreise Böblingen, Esslingen, Ludwigsburg und Rems-Murr organisiert sind, seit 1. April 2019 nur noch fünf große Ringe. Mit dem Landkreis Göppingen sind es sieben Tarifzonen, mit der kleinen Altensteiger Ausbuchtung acht. Das machte den Fahrscheinkauf viel einfacher und oft deutlich günstiger. Die Fahrgastzahlen stiegen. "Der Trend stimmt. Die Tarifreform wirkt", jubelte der damalige Aufsichtsratsvorsitzende des VVS und Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) im August 2019. "Ich bin mir sicher, dass noch mehr Menschen in Stuttgart und der Region umsteigen werden."

Doch nun geht der Trend wieder in die alte Richtung: Im kommenden Jahr sollen die Fahrpreise bereits zum dritten Mal seit der Reform wieder steigen, diesmal sind durchschnittlich 2,5 Prozent Aufschlag geplant. Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) nennt Tariferhöhungen im Jahr 2022 auf Anfrage von Kontext "angesichts der aktuellen Entwicklung der Corona-Pandemie und der hierdurch zurückgegangenen Fahrgastzahlen das falsche Signal". Daher habe er sich dafür eingesetzt, die geplante Anhebung der Tarife 2022 auszusetzen. Für die Verkehrswende sei es "absolut wichtig, dass der ÖPNV ein gutes Angebot zu fairen Preisen macht".

Während in Stuttgart noch nicht einmal eine Nullrunde mehrheitsfähig war, schlägt Heidelberg einen ganz anderen Weg ein: Im Sommerinterview mit der "Rhein-Neckar-Zeitung" kündigte der Oberbürgermeister Eckart Würzner (parteilos) an, was nach Aussage des grünen Kommunalpolitikers Christoph Rothfuß bis dahin noch nicht einmal die Stadträte wussten: Der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) soll in Heidelberg gebührenfrei werden. Vorgesehen sind drei Stufen: Zuerst soll die Nutzung an Wochenenden gratis sein, im zweiten Schritt täglich für alle unter 18 Jahren und RentnerInnen. Und schließlich sollen alle kostenfrei fahren können.

Der erste Teil der Umsetzung soll zügig angegangen werden, womöglich noch in diesem Jahr. Für die weiteren Schritte ist der Zeitplan noch offen. Für die letzte Stufe sei aber eine Unterstützung des Bundes und des Landes nötig, betonte Würzner. Eine Arbeitsgruppe solle sich dafür mit dem Verkehrsverbund Rhein-Neckar (VRN) und den Nachbargemeinden, zu denen auch Mannheim gehört, abstimmen. Möglich ist, dass sich Nachbargemeinden anschließen – dann würde der kostenlose Verkehr nicht an der Stadtgrenze enden.

In Frankreich gibt es messbare Erfolge

Vorbild für Heidelberg ist die französische Partnerstadt Montpellier, sie ist schon einen Schritt weiter. Dort hatte Michaël Delafosse im Wahlkampf den kostenlosen ÖPNV versprochen und wurde im Juni 2020 gewählt. Dann löste der sozialistische Bürgermeister sein Wahlversprechen tatsächlich ein. Da er zugleich Präsident des Gemeindeverbandes von 31 Gemeinden ist, geschah das in größerem Rahmen: Seit September 2020 fahren die 450.000 EinwohnerInnen der gesamten Metropolregion "Montpellier Méditerranée Métropole" mit ihren 31 Gemeinden am Wochenende gratis. Dazu haben alle einen Wochenendpass zugesandt bekommen. Alternativ gibt es auch eine App fürs Smartphone.

Bis 2023 soll das Gratisangebot an allen Tagen gelten. Werden die zusätzlichen Kosten durch den fehlenden Wochenendverkauf von Fahrscheinen auf 1,9 Millionen Euro geschätzt, sollen es dann 24 Millionen Euro sein, die zusätzlich zu finanzieren sind. Die Metropolregion ist der erste kommunale Großverband in Frankreich mit kostenlosem ÖPNV. Es gibt aber bereits mehr als 30 kleinere Einzelkommunen und Gemeindeverbände, die sich zu diesem Schritt entschlossen haben.

Auch die Hafenstadt Dunkerque/Dünkirchen an der südlichen Nordseeküste hat mit dem kostenlosen Wochenende begonnen – und später auf alle Tage erweitert. Parallel wurde das Angebot ausgebaut. Das war dringend nötig, denn die Fahrgastzahlen stiegen drastisch. Am Wochenende haben sie sich mehr als verdoppelt. Wo kommen die zusätzlichen Fahrgäste her? Von 2.000 befragten BusnutzerInnen ließen 48 Prozent das Auto stehen, 21 Prozent wären zu Fuß gegangen und 11 Prozent mit dem Fahrrad gefahren. Ein Drittel der Befragten gab an, nun mehr unterwegs zu sein. Mehrfachantworten waren möglich.

Tübingen will – und wartet

Ausbau oder Gratisverkehr? Eckart Würzner will in Heidelberg beides: "Angebot, Infrastruktur und Preis müssen zum Umstieg bewegen. Ich setze mich dafür ein, dass wir jetzt auch beim Preis einen großen Schritt machen", sagte der OB der "Rhein-Neckar-Zeitung". Städte hätten beim Klimaschutz eine Schlüsselrolle, ergänzt die Sprecherin der Stadt Heidelberg, Christiane Calis: "Heidelberg setzt sich dafür ein, dass jeder umweltfreundlich ans Ziel kommt." Es gehe auch um den sozialen Aspekt. Diejenigen, die sehr viel zum Klimaschutz beitragen, sollten eine Anerkennung erfahren. Welche Kapazitätserweiterungen beim Gratisangebot nötig werden, lasse sich derzeit noch nicht sagen.

Auch die Stadt Tübingen diskutiert über einen kostenlosen ÖPNV. "Leider können wir noch keine Neuigkeiten vermelden. Wir warten auf das Landesgesetz", sagt die Sprecherin Anja Degner-Baxmann. Die grün-schwarze Regierung könnte den Kommunen mehr Spielräume bei der ÖPNV-Finanzierung verschaffen. Mit der geplanten Einführung eines Mobilitätspasses ist das Vorhaben im aktuellen Koalitionsvertrag verankert. Vorstellbar ist zum Beispiel, dass AutonutzerInnen und EinwohnerInnen eine Abgabe zahlen, als Gegenleistung für einen kostenlosen Nahverkehr. Damit würden alle zur ÖPNV-Finanzierung beitragen, ob sie ihn nutzen oder nicht.

Ist die Fahrt für alle gratis, nicht nur für die jeweiligen BürgerInnen, fallen im Gegenzug manche Kosten weg, etwa für Fahrscheinautomaten und Kontrolleure. Dies geschieht aber nur sehr eingeschränkt, denn in Heidelberg würden ja weiterhin Fahrscheine zu Zielen außerhalb der Stadt verkauft. Wie hoch diese Einsparungen sind, dazu liegen dem Verkehrsministerium derzeit keine Untersuchungen vor. Verkehrsminister Hermann nennt den gebührenfreien Nahverkehr zwar "eine Möglichkeit, die Menschen zum Ein- und Umsteigen zu bewegen", und kündigt an, den ÖPNV in Baden-Württemberg "im großen Stil" ausbauen zu wollen. Allerdings bremst er in seiner Stellungnahme gegenüber Kontext die generellen Erwartungen, denn "als dauerhafte Maßnahme (langfristig, täglich) ist den Kommunen eine Finanzierung bisher kaum möglich". Über den Mobilitätspass werde sich diese Situation mittelfristig verbessern, sodass damit auch "ambitionierte Maßnahmen wie kostenlose Tickets am Wochenende finanziert werden" könnten. 

Vorbild Luxemburg

Nicht nur an Wochenenden, sondern rund um die Uhr sind im noch ambitionierteren Nachbarland Luxemburg Bahn, Straßenbahn und Bus seit 1. März 2020 für alle – auch TouristInnen – gratis. Diese Entscheidung der drei Koalitionsparteien hat einen sozialen Hintergrund: Durch die Steuerfinanzierung, erläutert das Ministerium für Transport und öffentliche Arbeiten, würden breite Schultern stärker belastet als schmale. Geringverdiener würden entlastet.

Der Schritt fiel dem kleinen Land, das einem größeren Ballungsgebiet entspricht, vergleichsweise leicht: Die Fahrpreise waren schon vorher sehr niedrig und deckten nur acht Prozent der jährlichen ÖPNV-Gesamtkosten von 500 Millionen Euro.

Wie sich die Nutzung seit März 2020 entwickelt hat, ist wegen der parallel einsetzenden Corona-Maßnahmen schwer einzuordnen, das nächste Monitoring ist für März 2022 geplant. Der ÖPNV-Ausbau im Land geht indes weiter: Nach den Plänen soll das Busnetz ab 2022 das dichteste in ganz Europa sein. Das eingesparte Personal im Fahrscheinverkauf wird für mehr Service und Präsenz an anderen Stellen eingesetzt. Fahrscheine gibt es aber weiterhin: zum einen für Fahrten jenseits der Landesgrenze, zum andern für die 1. Klasse. Sie bleibt erhalten und kostenpflichtig.


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