Ja, was ist denn bloß mit Bollywood passiert? Wo bleiben sie denn, diese schimmernden Paläste in samtschwarzer Nacht, diese wunderschönen Frauen in wehenden Gewändern, diese sanftweichen Mütter, die ihre Kinder inbrünstig lieben, diese strengen Väter, die auf Traditionen beharren, diese hin- und hergerissenen Söhne, die sich nicht standesgemäß verlieben, also dieses ganze große und oft dreistündige Leiden und Opferbringen samt Tanzeinlagen zu exotisch-süffiger Musik und gefühligen Gesängen auf rhythmusbetontem Grund? Nix davon zu sehen und zu hören in Lijo Jose Pellisserys "Zorn der Bestien – Jallikattu". Stattdessen rumpeln ruppige Dörfler in Sandalen oder Flip-Flops durch Wald und Flur, lauter laute, schwitzig-schwere und haarige Männer in dreckigen T-Shirts und schlechtsitzenden Wickelröcken, an denen sie, wenn sie nicht gerade andere anrempeln und zusammenschreien, dauernd was zu rupfen und zu zupfen haben.
Aber halt: Dies ist zwar ein Film aus Indien, aber kein Bollywoodfilm. Er wurde im Südwesten des Landes im Bundesstaat Kerala produziert, wo nicht Hindi, sondern Malayalam gesprochen wird. Und auch dort, in der Mollywood bespitznamten Filmindustrie, inszeniert sich "Zorn der Bestien" nicht in den Mainstream hinein, sondern wuchtet ein höchst originelles und ungeheuer dynamisches Werk auf die Leinwand. Indisches Autorenkino, wenn man so will. Das geht los mit einer Serie von menschlichen Augenaufschlägen, schnell aneinander geschnitten zum Ticken einer Uhr. Oder ist das gar keine Uhr? Ist das Teil eines Sounds, zu dem auch bald Trommelschläge gehören und Vogelgeschrei und das Keuchen einer Kreatur, der gar nicht aus der Zivilisation herauskommt, sondern aus dunkleren und tieferen Schichten?
Fast beiläufig führt der Film ins Dorfleben ein, deutet Geschichten an, führt diese aber nicht aus, sondern springt gleich weiter. Einzelne Gesichter werden vertrauter, das von Antony (Antony Vargehes) etwa und das von Kalan (Chemban Vinod Jose), die ein halb legales Fleischgeschäft betreiben; das von Kuriachan (Jaffer Iduki), der gern quatscht und säuft und die Verlobung seiner Tochter vorbereitet; und das vom arroganten Jäger Kuttachan (Sabumon Abdusamad), der alte Feindschaften pflegt. Er wurde gerufen, als eine Schlachtung im Wald schiefging: Ein Stier entkam und trampelt nun durch die Plantagen. Doch nicht nur der Jäger, das ganze Dorf ist jetzt hinter dem Tier her. Das ganze Dorf? Nein, es sind die Männer, die nur auf einen Anlass gewartet haben, um zum marodierenden Mob zu werden. Der Filmtitel setzt das Wort Bestie in den Plural.
Blutrausch bis zur Apokalypse
Im Bollywood-Kino wäre schon dieser Plot ein Problem. Nicht nur Kühe, auch Stiere sind im Hinduismus tabu. In Kerala aber sind die Hindus in der Minderheit, dafür haben Muslime und Marxisten dort eine starke Basis. Und im Dorf des Films, in dem auch mal Lenin-Bilder an der Wand hängen, steht sogar eine christliche Kirche, spielt der Pfarrer eine größere Rolle. Aber so groß, dass die Gemeinde eine friedliche wäre, ist sein Einfluss nicht. Und auch er will ja, was hier alle wollen: Fleisch! Ja, es könnte sein, dass das Verzehren von Tieren aggressiv macht, der drohende Verzicht darauf aber, das sieht man in diesem Film, macht noch aggressiver. Ist dies also ein Werk mit vegetarischer Botschaft? Zumindest lässt es diese Lesart zu. Darauf einengen aber lässt der Film sich nicht.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!