Aus dem Schwarz heraus raunt es tief und fatalistisch: "Der Krieg ist verloren ...". Langsam schält sich ein Mann aus dem Dunkel eines Schiffsbauchs, die Kamera rückt ihm näher, er sieht aus wie ein schwerer Brüter, der das Gewicht der Welt zu schultern hat, einer ganz und gar kaputten Welt. Es ist Peter Perg (Murathan Muslu), der zwei Jahre nach dem ersten der Weltkriege aus russischer Gefangenschaft heimkehrt ins untergegangene Habsburgerreich, dort aber kein Zuhause mehr findet. Das rostige Schiff gleitet auf seiner Fahrt nach Wien durch ein Totenreich, vorbei an verbrannten Bäumen, vorbei am Friedhof der Namenlosen. "Alles umsonst", flüstert im Sterben einer von Pergs Kameraden. Diese Ex-Soldaten sind so zerschlissen wie ihre Uniformen, und sie fahren nicht in den Frieden, sondern in ein zusammengebrochenes und zur chaotisch-brodelnden Republik geschrumpftes k. u. k.-Reich, das für sie keinen Platz mehr bietet. Außer im Obdachlosenquartier. Oder, wie für Peter Perg, in einer gespenstisch leeren Großbürgerwohnung, aus der seine Frau samt Kind ausgezogen ist.
In dieses von Gott verlassene Wien, dem jede Gemütlichkeit, jeder Humor, jeder Schmäh ausgetrieben ist, inszeniert Stefan Ruzowitzky ("Anatomie", "Die Fälscher") einen düsteren Thriller hinein, in dem ein Serienkiller sein Unwesen treibt. Peter Perg, vor dem Krieg im Kriminaldienst, findet sich eher gegen seinen Willen in der Ermittlungsarbeit wieder, wird aber auch selber von einem jungen Kollegen (Max von der Groeben) verdächtigt. Tatsächlich hat die unheimliche Mordserie, bei der die Opfer in grausamen Ritualen gepfählt, geköpft oder zerstückelt werden, mit ihm und seinen Kameraden zu tun. Sie alle haben, wie schon gesagt, ihren Frieden nicht gefunden, haben vielmehr ihre böse Vergangenheit und damit den Krieg mitgebracht ins "Hinterland".
Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, als sich in den Verwüstungen nach der ersten Katastrophe schon die Ahnungen der zweiten abzeichneten, ist für das deutsche Kino und Fernsehen wieder aktuell geworden. Dominik Grafs "Fabian oder der Gang vor die Hunde" oder die TV-Serie "Babylon Berlin" erinnern sich an jene Zwischenkriegszeit aber nicht nur als Historie, in der sich Phänomene unserer Gegenwart spiegeln, sie erinnern auch an deutsche Filmhistorie. Genauer gesagt: Das Kino des Expressionismus wird in diesen Geschichten und vor allem in "Babylon Berlin" zitiert, jenes Alptraum-Kino also, in dem zerrissene Seelenlandschaften umgesetzt wurden in Stil, Architektur und Atmosphäre. Und auch jenes Kino, über das der Soziologe und Kritiker Siegfried Kracauer 1947 ein Buch schrieb, dessen legendärer Titel den Sprung von der Leinwand in die Realität vollzieht: "Von Caligari zu Hitler".
Caligaris Alptraumwelt als dreidimensionales Zerrbild
Stefan Ruzowitzkys "Hinterland", der das expressionistische Kino nicht nur zitiert, sondern dieses Kino ganz und gar sein will, spielt in jenem Jahr 1920, in dem "Das Cabinet des Dr. Caligari" in die Kinos kam. Ebenfalls eine Serienmordgeschichte, die zum stilprägenden Klassiker wurde. Die Hell-Dunkel-Effekte, die engen Gassen, die gekippten Perspektiven: All dies findet sich nun auch wieder in "Hinterland", diesmal allerdings nicht gefilmt in gemalten Kulissen, sondern erzeugt durch computergenerierte Bilder, die aus Wien ein schiefwinklig-zersplittertes Panoptikum machen, eine farbleere, annähernd monochrome Stadt in fast immerwährender Nacht, in der auch bekannte Gebäude wie der Stephansdom zum eigenen Zerrbild werden und wie unheimliche Riesen über den Menschen dräuen. Als Thriller mag dieser Film ein paar Schwächen haben. Als Stilübung ist er sensationell.
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