Wenn jemand die 100 gesund und fit überschreitet, dann Elke Twiesselmann. Es ist keine drei Jahre her, da sah ich die Schauspielerin auf der Bühne behände und gelenkig über Tische und Stühle klettern und unten durchkrabbeln. Da war sie schon Anfang 90 und spielte an der Esslinger Landesbühne Goethes "Faust I" – in einer Version für zwei Schauspielerinnen. Übernahm deshalb gleich mehrere Rollen: natürlich den Mephisto, aber auch Wagner, Gretchen, den geschlechtsneutralen Erdgeist und ... und ... und ... – "transgender und transage" eben, wie sie es selbst up to date ausdrückte. Twiesselmann performte eine riesige Textmenge. Darunter ausgerechnet den Mephisto, der Faust seine Jugend zurückvermittelt. Pfffff! Hätte Twiesselmann selbst nicht nötig gehabt, so einen Pakt mit dem Teufel.
Wenn man sie im Stuttgarter Schauspielhaus nach Premieren mit einem Glas Rotwein in der Hand im Foyer traf und sie den Abend gelungen fand, dann glänzten und blitzten ihre blauen Augen wie die einer Jungen. Eleganz und Würde strahlte sie aus, ja, eine Grand Dame wie sie im Buche steht. Immer schick und ein bisschen extravagant gekleidet, von schlanker, aufragender Gestalt. Eine imposante Erscheinung, wie man so schön sagt. Und mit einer sehr klaren Diktion. Das Alter stand ihr gut. Aber sie war keine Diva, weil nahbar und den Menschen zugewandt. Es war stets ihr Gegenüber, das sie interessierte. Von sich hat sie selten gesprochen, blickte nicht zurück. Sie lobte gerne, aber nur, wenn es ihr wirklich gefallen hat. Eine rare Eigenschaft. Sylvana Krappatsch, eine Kollegin vom Stuttgarter Schauspiel, erinnert sich, wie wunderbar es war, wenn diese nach der Premiere zu ihr gekommen sei und in ihrer unnachahmlichen Art gesagt habe: "Sylvana, das war heute ganz grrroooooßartig!" Da sei sie gleich zwei Zentimeter gewachsen, sagt sie und lacht. Twiesselmann war in dieser Hinsicht alte Schule. Sie hatte ja die Zeit noch miterlebt, als große Schauspielerinnen, die große Partien spielten, auf Händen getragen wurden. Und jetzt feierte sie eben die Kollegin. "Ihr Lob adelte", sagt diese. Denn war Twiesselmann unzufrieden mit dem Abend, dann kam sie auch nicht.
Ein paar der jüngsten Theaterentwicklungen sah Twiesselmann durchaus kritisch: "Wenn es keine Rollendarstellung und keine Geschichte mehr gibt, wenn ein Regisseur nur noch seine privaten Assoziationen zum Stoff ausstellt, dann ist das ein unerträglicher Hochmut gegenüber dem Publikum", sagte sie einmal in einem Interview in der "Eßlinger Zeitung". Und langweilen wollte sie sich auch nicht. Ich traf sie mal in der Pause eines Konzerts, da verzichtete sie gähnend auf die zweite Hälfte und verließ die Liederhalle. Mit schlechter Musik wollte sie ihre Zeit nicht vergeuden.
Ab 70 wurden die Rollen interessanter
Stand Twiesselmann selbst auf der Bühne, gab sie immer 100 Prozent. Ihre penible Rollenvorbereitung ist legendär. Man sei ja nicht mehr 80, pflegte sie zu sagen. Während der Proben imponierte sie "durch Disziplin und Körperbeherrschung", berichtet Krappatsch, die bewundert, dass Twiesselmann trotz hohen Alters acht Stunden Probe-Marathon klaglos durchgezogen hat. Mitreißend sei "ihre Offenheit, Neugierde, ihre Begeisterungsfähigkeit, Spiellust und Demut" gewesen, sagt sie.
Wenn man Twiesselmann fragte, wie sie es in ihrem Alter noch schaffe, so fit und gelenkig zu sein, reagierte sie allerdings indigniert. Sie sagte dann, nur weil sie alt sei, müsse sie ja nicht gleich am Krückstock gehen. Auf ihr Alter reduziert zu werden, das mochte sie gar nicht.
Es seien die "freundlichen Gene", pflegte sie dann aber auch zu sagen. Doch es war auch sehr viel Disziplin im Spiel: Schwimmen, Sauna, Fahrradfahren, jeden Morgen Yoga – vor allem Schulterstand und Pflug, verriet sie mal –, noch mehr aber Tai Chi, die meditative Kampfkunst, mit der sie sich auch auf Proben und Auftritte vorbereitete. So erinnert sich Krappatsch, wie Twiesselmann während der Vorstellungen "wie ein Geist im Dunklen der Hinterbühne stand und mit Tai-Chi-Übungen neue Energie für ihren nächsten Gang auf die Bühne sammelte".
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