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Covid-19

Impfdosen für Afrika verfallen

Covid-19: Impfdosen für Afrika verfallen
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Die Pandemie ist vorbei, wenn sie überall vorbei ist. Der Westen aber versendet Impfstoffe nach Afrika wie Almosen. Und manchmal erst dann, wenn das Ablaufdatum beinahe erreicht ist. Ein Skandal, der zu wenig Beachtung findet.

Die Kommentare sind vernichtend. "Das ist wirklich schauderhaft", meint Peter Wiessner, Sprecher vom "Aktionsbündnis gegen Aids", und spricht von vergifteten Almosen. Er bezieht sich auf einen Bericht der Nachrichtenagentur Reuters von Anfang Dezember. Darin heißt es, dass schätzungsweise mehr als eine Million Impfdosen in Nigeria nicht mehr verwendet werden könnten, weil sie im November abgelaufen sind. Die frühere Koordinatorin für humanitäre Angelegenheiten in Nigeria, die Medizinerin Ayoade Alakija, spricht sogar von knapp 2,5 Millionen Impfdosen. Was für ein Skandal, der hierzulande kaum Beachtung findet.

Der Impfstoff von AstraZeneca kam über die internationale Plattform Covax offenbar aus der EU. Das Problem sei, dass viele der Dosen nur noch vier bis sechs Wochen haltbar sind, wenn sie ankommen. Damit könne ein unterfinanziertes Gesundheitssystem wie in Nigeria, in dem es an allem fehlt, selbst an Wattestäbchen, an Kühlschränken oder in manchen Gegenden sogar an ausreichend Strom zur Kühlung der Vakzine, in der Kürze der Zeit nicht zurechtkommen, beschreiben Beobachter die Lage.

Ein Teil der Impfdosen stammt offenbar auch aus Deutschland: Auf der Homepage des Auswärtigen Amtes ist zu lesen, dass mittlerweile rund 95 Millionen Dosen an Covax übertragen worden seien, die nun Schritt für Schritt ausgeliefert werden. Bis Anfang Dezember seien davon bereits knapp 27,7 Millionen Dosen an 23 Empfängerstaaten ausgeliefert worden. Weitere rund 65 Millionen Dosen befinden sich den Angaben zufolge in der Auslieferung oder Liefervorbereitung über Covax.

Virus-Mutanten sind programmiert

Es heißt, dass der beschriebene Fall der größte Verlust an Impfstoff ist, den es bisher in Afrika gegeben hat. Fatal dabei ist, dass in dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas von 200 Millionen Menschen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nur etwa vier Prozent eine vollständige Impfung haben. Die niedrige Quote befördert nicht nur schwere Verläufe und Todesfälle – Wissenschaftler sind sich einig, dass nur eine weltweit hohe Impfrate die Entstehung weiterer Mutationen wie Omikron verhindern kann.

Die Organisation Medico International mit Sitz in Frankfurt weist darauf hin, dass der südafrikanische Intensivmediziner Louis Reynolds schon im Sommer in einem Beitrag für die Zeitung "Maverick Citizen" davor warnte, dass die Ungleichheit bei der Impfung das Auftreten einer größeren Anzahl von Virusvarianten begünstige, vor allem an Orten mit dem schlechtesten Zugang zu Impfungen: Mitte August waren "in sechs der zehn Länder mit den höchsten Pro-Kopf-Todesraten durch Covid-19 - in Tunesien, Georgien, Botswana, Eswatini, Namibia und Südafrika weniger als zehn Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft".

Schwere Vorwürfe erhebt Reynolds gegenüber den Pharmaunternehmen. Sie hätten ein Interesse an Krankheit und schlechten Gesundheitszuständen. In diesem Zusammenhang bezieht er sich auf einen Bericht der "People's Vaccine Alliance" vom Juli 2021, aus dem hervorgeht, dass Pfizer/BioNTech und Moderna den Regierungen bis zu 41 Milliarden US-Dollar mehr als die geschätzten Produktionskosten in Rechnung stellen. Außerdem habe Pfizer zur gleichen Zeit bekannt gegeben, dass es dank seinem Covid-19-Impfstoff 2021 einen Umsatz von etwa 33 Milliarden US-Dollar erwartet – 30 Prozent mehr als noch vor drei Monaten prognostiziert. Das "Ärzteblatt" berichtete im November, dass das Unternehmen die Prognose auf nunmehr 36 Milliarden Dollar korrigiert hat.

EU sträubt sich, den Patentschutz aufzuheben

Weiterhin setzen Deutschland und die EU auf freiwillige Spenden von Arzneimitteln und sind gegen eine Aufhebung des Patentschutzes. Ihr Argument lautet, dass sonst der Anreiz für die Forschungstätigkeit bei den Pharmakonzernen fehle. Dies hält der Mediziner Unni Karunakara, der lange für Ärzte ohne Grenzen tätig war und sich für die globale Gesundheitsgerechtigkeit einsetzt, für falsch. "Es ist geradezu kurios, dass im Herzen der Ideologie vom freien Markt eine extreme protektionistische Tendenz vorliegt", sagt er.

Ausgabe 558, 08.12.2021

Der Egoismus rächt sich

Die extreme Ungleichheit bei den weltweiten Impfquoten hat Folgen, weitere Mutationen sind nur eine Frage der Zeit. Allgemeinwohl und Vernunft leiden unter ökonomischen Interessen, kritisiert die Tübinger Ärztin Gisela Schneider.

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Karunakara fügt hinzu: "Wir wissen längst, dass Patente keine Innovation befördern. Im Gegenteil, viele Patente und Patentverlängerungen verhindern Innovationen. Die Patentgesetzgebung schützt die Monopole und die Profitmöglichkeiten von Big Pharma".

Kein Wunder, dass die Ungeduld in den von der ungleichen Impfstoffverteilung betroffenen Ländern wächst. Der "Spiegel" berichtet, dass die südafrikanische Firma "Afrigen Biologics & Vaccines" sich jetzt daran gemacht hat, "den ersten mRNA-Impfstoff auf dem afrikanischen Kontinent zu entwickeln und herzustellen".

Dass die Firma dabei den Moderna-Impfstoff kopieren und ihn an die Bedingungen in Afrika anpassen will, besonders im Blick auf die bislang notwendige starke Kühlung, kollidiert mit dem bestehenden Patentschutz. Zwar will Moderna seine Impfstoffformel nicht teilen, das Unternehmen hat aber angekündigt, während der Pandemie nicht gegen Patentverletzungen vorzugehen. Immerhin.

Afrigen entwickelt Impfstoff für arme Länder

Afrigen hat ein ambitioniertes Ziel. In Kooperation mit Wissenschaftlern aus Brasilien und Argentinien soll im Lauf des kommenden Jahres ein Impfstoff für arme Länder entstehen. Die Ursprungsidee war anders. Eigentlich hatte die WHO schon im Juni den ersten "mRNA vaccine technology transfer and training hub" geplant. In diesem ersten mRNA-Technologietransfer-Zentrum sollte Afrigen mit dem südafrikanischen Impfstoffhersteller Biovac und Universitäten im Land kooperieren.

Gedacht war aber an die Übernahme eines fertig entwickelten Impfstoffs. Nur keiner der Impfstoffhersteller reagierte. Diesen Mangel an Kooperationsbereitschaft hat auch Gisela Schneider, die Direktorin des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission (Difäm) in Tübingen, schon im Gespräch mit Kontext kritisiert. Sie weiß, dass in Afrika mittlerweile zwischen 20 und 30 Prozent Impfstoffe aus Russland und China verwendet werden. Sie seien jedoch nicht beliebt, weil sie nicht von der EU anerkannt werden und damit auch Reisebeschränkungen verbunden sind. Das spricht jedoch nicht gegen die Impfstoffe. Auch aus Kuba wird berichtet, dass dort ein wirksamer Impfstoff entwickelt worden ist.

Impfstoffliste der WHO

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstellt eine Liste von Impfstoffen, die sie als geeignet für die Anwendung empfehlen kann. Diese Impfstoffe müssen einem Mindeststandard genügen. In der Auflistung finden sich neben den in Deutschland zugelassenen Impfstoffen wie die von BioNTech und Moderna auch diejenigen von indischen und chinesischen Herstellern.  (lang)

Schneider fordert, dass alle Impfstoffe die von der WHO gesetzten Mindeststandards erfüllen müssen. Eine entsprechende Liste gibt es schon. Deshalb ist es nach Ansicht von Schneider notwendig, die WHO zu einer Organisation weiterzuentwickeln, die das Mandat hat, Standards zu setzen und auch durchzusetzen. Dies hält Schneider im Sinne einer gerechten globalen Gesundheitspolitik für unabdingbar. "Wir brauchen Standards. Denn es darf keine Menschen zweiter Klasse geben, die nicht die Impfstoffe erhalten, die den Mindestkriterien entsprechen", sagt sie.

Dass Gerechtigkeit im Gesundheitssektor grundsätzlich funktionieren könnte, habe sich beim Kampf gegen Aids schon erwiesen. So sei zum Beispiel im Kongo eine Firma gegründet worden, deren Medikament jedoch die Kriterien der WHO nicht erfüllen konnte, die damals als Standard international anerkannt worden sind. Das bedeutete, dass das Ganze wieder eingestampft werden musste. Sorgen macht Schneider jedoch vor allem die weiter bestehende Schwäche der Gesundheitssysteme in Afrika. Diese zu stärken ist für sie die zentrale Aufgabe für die Zukunft. Schließlich, sagt Schneider, sei die globale Gesundheit auch in den 17 Zielen der UN für nachhaltige Entwicklung festgeschrieben worden.


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