"Das Rad braucht keine Abwrackprämien", postet Kienzle am Weltfahrradtag, dem 3. Juni: "Sondern sichere Wege." Und legt zwei Wochen später am Tag der Verkehrssicherheit nach: "Das Stuttgarter Polizeipräsidium verzeichnet für 2019 25.743 Verkehrsunfälle. Das sind im Durchschnitt Tag für Tag 70 Unfälle!" Es gab 1.945 Unfälle mit Personenschäden, und drei Tote, rechnet sie vor. "In 577 Unfällen waren Fahrräder bzw. Pedelecs mit betroffen, in 296 Unfällen Fußgänger." Die OB-Kandidatin dazu: "Ich will, dass in Stuttgart überhaupt kein Mensch mehr im Verkehr zu Schaden kommt."
Mit dem Holland-Rad durch Stuttgart
In Bremen und Worpswede aufgewachsen, war Kienzle schon mit ihrem Holland-Rad unterwegs, als sie um 1980 nach Stuttgart kam, um Eurhythmie zu studieren. Sie interessierte sich eigentlich für Ausdruckstanz, doch auf diesem Gebiet damals gab es noch wenig Ausbildungsmöglichkeiten. So kam sie auf die Eurhythmie und zu Else Klink, der großen Tanzlehrerin, die seit 1935, – in der Nazizeit unter großen Einschränkungen, danach umso entschlossener, – das Stuttgarter Eurythmeum geleitet und aufgebaut hat.
Kienzle ging nach Berlin, arbeitete bei den Berliner Festspielen und an der Freien Volksbühne. Doch dann zog es sie wieder zurück nach Stuttgart. Sie war Geschäftsführerin des Eurhythmeums und Dramaturgin für Öffentlichkeitsarbeit am Theaterhaus, das Werner Schretzmeier 1985 in Stuttgart-Wangen gegründet hat. Dort hat sie sich politisiert – und ihren Mann kennengelernt: Michael Kienzle, Germanistik-Dozent, Grünen-Gemeinderat und heute Redenschreiber für Winfried Kretschmann. Es war die Zeit, als Schretzmeier Stücke des Berliner Kinder- und Jugendtheaters Rote Grütze inszenierte wie "Was heißt hier Liebe?" oder "Mensch, ich lieb' dich doch", zu umstrittenen Themen wie Aufklärung und Drogen.
Aber auch Fremdenfeindlichkeit war ein Thema. Nach den Anschlägen von Mölln, Hoyerswerda und Rostock moderierte sie eine Podiumsdiskussion, an der auch die damalige Sozialbürgermeisterin Gabriele Müller-Trimbusch teilnahm. Bald darauf sprach die FDP-Politikerin, eine resolute Person, Kienzle an: In Botnang wurde damals eine Flüchtlingsunterkunft aufgebaut, Behelfsbauten, erstmals keine Container. Die hatte gebrannt, zum Glück noch bevor jemand eingezogen war.
Rund 280 bosnische Kriegsflüchtlinge waren im Osten der Republik in einem stacheldrahtumzäunten Lager in Panik geraten. Irgendjemand erwähnte Stuttgart. Die völlig überforderten Behörden setzten die Menschen in einen Zug. Oberbürgermeister Manfred Rommel erhielt einen Anruf. Seine Reaktion: Egal was passiert, die bleiben bei uns. Das rechnet ihm Kienzle bis heute hoch an. Müller-Trimbusch wollte nun von ihr wissen, was da zu tun wäre und beauftragte sie, nach dem Rechten zu sehen.
Wegweisendes Projekt der Flüchtlingshilfe
Veronika Kienzle hat sich erstmal ans Fenster gesetzt und rausgeschaut. Sie beobachtete die Nachbarn; die Frauen und Kinder, die zuerst kamen. Mit den Geflüchteten baute sie eine Fahrradwerkstatt auf. Jeder, der in Botnang oder im Stuttgarter Westen wohnte, konnte hier sein Rad gratis reparieren lassen. Die BewohnerInnen des Flüchtlingsdorfs züchteten Blumen und reparierten die Vorhänge des Botnanger Bürgerhauses. Sie feierten Feste mit den Nachbarn. Es wurde ein wegweisendes Projekt der Flüchtlingshilfe, und Kienzle wurde Flüchtlingskoordinatorin der Stadt.
Bald darauf brannte es auch in der Stuttgarter Innenstadt. In einem überbelegten Altbau in der Geißstraße 7 kamen sieben Menschen ums Leben und 16 wurden verletzt, zum großen Teil Nichtdeutsche. Kienzle und ihr Mann gründeten die Stiftung Geißstraße. Die Stiftung veranstaltet Vorträge, Lesungen und Diskussionen und vermietet befristet Wohnungen an Menschen, die auf dem freien Wohnungsmarkt keine Bleibe finden. Der Platz am Hans-im-Glück-Brunnen ist im sonst eher hässlichen Stuttgart ein Magnet für Touristen. Die Einnahmen aus der Gastronomie im Erdgeschoss kommen auch der Stiftung zugute.
Nach der Geburt ihrer Tochter Amrei nahm Kienzle eine Auszeit. Später arbeitete sie im Krankenhausbereich und organisierte unter Staatsrätin Gisela Erler Bürgerbeteiligungen. 1997 wurde sie gefragt, ob sie bereit sei, sich auf die Liste der Grünen für die Gemeinderatswahl setzen zu lassen. Sie sagte zu – für einen der hinteren Plätze, doch ihr Wahlergebnis katapultierte sie um 39 Plätze nach vorn und sie zog als Nachrückerin in den Stadtrat ein. Damals waren sie und ihr Mann das allererste Ehepaar im Stuttgarter Gemeinderat. Sie agierten getrennt, nur den Kulturausschuss wollten sie sich beide nicht nehmen lassen.
2 Kommentare verfügbar
H. Kannes
am 23.09.2020Zudem darf die Funktion der Partei, für die Frau Kienzle antritt, nicht vergessen werden: Beibehaltung des schändlichen Status Quo begleitet mit einer ökoliberalen Feelgood-Rhetorik, die uns wirkliche Änderungen unserer zerstörerischen…