Minuten vor der Bekanntgabe der Entscheidung in der Landesgeschäftsstelle der Grünen waren praktisch alle BeobachterInnen einer Meinung: erstens darüber, dass der frühere Landes- und Bundesvorsitzende seiner Partei natürlich zur Wiederwahl als Stuttgarter Oberbürgermeister im November antritt. Und zweitens, dass seine Chancen, diese zu gewinnen, bestens sind. Dann das, was Mark Breitenbücher, der Grünen-Kreisvorsitzende in Stuttgart, später einen Paukenschlag nennt. O-Ton Fritz Kuhn: "Ohne große Vorreden will ich Ihnen sagen, dass ich mich entschieden habe, nicht für eine zweite Amtszeit anzutreten."
Für seine Grünen in Stadt und Land beginnt damit eine neue Zeitrechnung. Denn die unerwartete Ansage ist ein weiterer Schritt in die Normalität einer Volkspartei. Und ein Lackmustest für die Beständigkeit von guten und besonders guten Ergebnissen. Winfried Kretschmann hat seine erste Periode als baden-württembergischer Ministerpräsident ab 2011 auch Fukushima und Stuttgart 21 zu verdanken. Doch 2016 flog der berühmte Teppich bei der Landtagswahl bekanntlich sogar ohne Sonderfaktoren noch höher. Jetzt muss seine Partei auf kommunaler Ebene beweisen, dass das Personalangebot stark und groß genug ist, den Abgang eines Amtsinhabers zu verkraften. So gesehen hat das weitere Vorgehen Signalwirkung für die Zeit nach Kretschmann. Schon in etwa sechs Wochen wollen die Kreis-Grünen – dank einer jetzt schleunigst einzusetzenden Findungskommission – sortiert sein. Von der grünen Landtagspräsidentin Muhterem Aras ist ohnehin bereits bekannt, dass sie sehr gerne Oberbürgermeisterin würde.
Kuhn nennt persönliche Gründe
Als Begründung für seinen Schritt nennt Kuhn ausschließlich persönliche Gründe. Nach Abschluss der Haushaltsberatungen im Gemeinderat hat er über Weihnachten und Neujahr gemeinsam mit seiner Frau Waltraud Ulshöfer beraten und entschieden. Die beiden saßen 1984 gemeinsam in der zweiten Grünen-Landtagsfraktion, haben zwei erwachsene Söhne und ein Leben neben der Politik. Er wäre bei einem neuerlichen Amtsantritt 65 Jahre alt, rechnet der Noch-OB vor, am Ende der nächsten Wahlperiode also 73. Und er lässt keinen Zweifel, dass er dieses Ende auf jeden Fall angestrebt hätte, weil ein Abgang etwa nach vier Jahren nicht in Frage kommen würde: "Die Bürgerinnen und Bürger wählen einen OB für acht Jahre und alle Kandidaten treten für acht Jahre an." Der Entschluss sei nicht einfach gewesen, aber: "C'est la vie."
Es passt zum Gründungsgrünen, der in seiner Heimatstadt Memmingen zuerst den Weg zu den Jusos fand – bis zu Helmut Schmidts Nato-Doppelbeschluss –, dass er als Freischwimmer noch einmal richtig loslegen will. Etwa, um die Interimsoper und die Sanierung des Littmann-Bau in trockene Tücher zu bringen, oder um der Stadt ein neues Pflegeheim-Konzept zu hinterlassen, weil Stuttgart mehr Plätze braucht. Die Dauerthemen begleiten ihn ohnehin. Stuttgart 21, das er als Gegner der ersten Stunde in den Augen vieler Kopfbahnhofbefürworter hätte mitverhindern helfen müssen, oder der Wohnungsbau. Die Mieten steigen weiter, trotz des städtischen Innenentwicklungsmodells (SIM). 30 Prozent geförderte Wohnungen werden im Geschossbau auf privaten und sogar 50 Prozent auf städtischen Flächen verlangt, ausreichend leistbaren Wohnraum wird es trotzdem noch lange nicht geben.
Einiges steht auf Kuhns Habenseite. Etwa der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs, nach 20 Jahren Streitigkeiten die VVS-Tarifreform in der Region samt einer Preissenkung. Auch, dass die Zahl der erlaubten Tage, an denen Feinstaubgrenzwerte nach den EU-Vorgaben zu hoch sind, inzwischen unterschritten wird. Die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten, damals 2015/2016, oft tausend oder noch mehr Menschen pro Monat, unter großer Unterstützung von StuttgarterInnen. Kuhn perlt, trotz der Ankündigung, es handele sich nicht um eine Bilanzpressekonferenz, weitere Erfolge herunter: vom "Hotel Silber" bis zum "Stadtpalais" (beides allerdings deutlich vor Kuhns Amtsantritt auf den Weg gebracht), vom "Wissenschaftsfestival" bis zum ersten großen Böller-freien Silvesterfest gerade erst auf Schlossplatz. Und er lässt erahnen, dass der Abgang nicht unbedingt ein Vorteil sein muss für alle anderen Parteien, die ohnehin noch auf KandidatInnensuche sind.
In der CDU fällt der Name Richard Arnold
Bei der CDU geistert immer wieder der Name des Schwäbisch Gmünder Oberbürgermeisters Richard Arnold herum. Der spricht am Tag des Kuhn-Rückzugs gegenüber Kontext vom Stuttgarter OB-Amt als einer "reizvollen Aufgabe". Und davon, dass "die Landeshauptstadt endlich jemanden braucht, der Kommune lebt und repräsentiert und die europäische Dimension der Metropolregion mitdenkt". Auch wenn das wie eine Bewerbung klingt, hält sich Arnold bedeckt: "Es gibt in der CDU viele fähige Leute, und entscheiden wird die Findungskommission in den nächsten Wochen." Die FDP überlegt auch, findet sich – erste Gespräche haben stattgefunden – möglicherweise wieder an der Seite von Martin Körner, SPD-Fraktionschef im Gemeinderat, der gerne antreten möchte. Ebenso ist zu erwarten, dass Hannes Rockenbauch (SÖS) seinen Hut abermals in den Ring wirft. Und zu allem Überfluss verkompliziert der Tengener Bürgermeister Marian Schreier die Ausgangslage, der als Sozialdemokrat auf jeden Fall antritt, allerdings ohne die Zustimmung seiner Partei.
Und die Grünen? Die haben das gute Ergebnis der Kommunalwahlen 2019 im Rücken und einen OB, der nicht (mehr) nach einzelnen Gruppen schielen muss, der gerade das "Menschheitsthema" (Kretschmann) Klimaschutz vor die Klammer ziehen kann, um Akzente zu setzen, ohne sich angreifbar zu machen. Denn bei aller Kritik, die dem Super-Realo in allen Ämtern in seiner Partei, im Land und im Bund entgegenschlug, als strategischer Kopf wurde er aller Orten gelobt oder gefürchtet. Und ein Satz bleibt ohnehin besonders hängen an dem für Stuttgart denkwürdigen Dienstag: In seinem Alter frage man sich, ob man nicht noch einmal etwas anderes machen wolle. Näheres ist – trotz mehrerer Nachfragen der anhaltend eingermaßen verblüfften JournalistInnenschar – bis auf Weiteres geheim.
4 Kommentare verfügbar
D. Hartmann
am 14.01.2020Mal ein Abgang eines politischen Amtsträgers bevor es richtig peinlich wird. In seiner Zunft schaffen das nur wenige.
Ein nicht nur räumlich naheliegendes Negativbeispiel sitzt in der Villa Reitzenstein und will dort auch nächstes Jahr noch nicht (freiwillig) ausziehen. Wann wird wohl…