KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Die Mär von den Mietnomaden

Die Mär von den Mietnomaden
|

Datum:

Sie nisten sich ein und machen alles kaputt: Mietnomaden. Laut Haus & Grund gibt es Zehntausende von ihnen – belegen lässt sich das nicht. Aber die Behauptung reichte, um das Gesetz zu verschärfen. Auch normale Mieter können seitdem leichter vor die Tür gesetzt werden.

"Erst blenden sie mit guten Manieren und dickem Auto" (FAZ), vor Vertragsabschluss geben sie sich "meist weltgewandt und täuschen einen gehobenen Lebensstil vor" (Spiegel Online). Dann prellt "der Feind im Haus" (Zeit Online) monatelang die Zeche, sie "zerstören oft die Räumlichkeiten" (SWR). In der Bild-Zeitung bereitet eine Stuttgarter Mietnomadin ihren "arglosen Nachbarn" nicht nur Schwierigkeiten, nein, sie "terrorisiert" sie.

Doch wie groß ist die Gefahr zum Opfer von Mietnomaden zu werden? Verblüffend wortgleich betonen Medien: "Zwar ist die Wahrscheinlichkeit gering", doch wen es trifft, den "kümmert die Statistik wenig" (FAZ, 05.08.2015; SWR, 07.09.2017). Aus Perspektive der betroffenen Eigentümer scheint das nachvollziehbar, schließlich können sich die entstandenen Schäden auf fünfstellige Beträge belaufen. Doch zumindest Politik und Medienwelt sollten sich ein wenig um die Statistik kümmern.

Zahlen liefert zum Beispiel der Grundbesitzerverband Haus & Grund. 15 000 Fälle gebe es jedes Jahr in der Bundesrepublik, der Schaden belaufe sich dabei jeweils auf 25 000 bis 30 000 Euro. Diese Schätzungen, zu deren Methodik sich Haus & Grund auf Rückfrage der Redaktion nicht äußern will, verbreitet(e) der Verband, bevor und nachdem die erste seriöse und wissenschaftlich belastbare Untersuchung zu dem Problem durchgeführt worden ist. Diese kommt allerdings zu abweichenden Befunden.

Seit 2010 ist eine <link http: www.jura.uni-bielefeld.de institute fir fir_gutachten_mietnomaden.pdf external-link-new-window>Studie der Universität Bielefeld verfügbar, die – man höre und staune – in Zusammenarbeit mit Haus & Grund entstand. In der Mitgliederzeitschrift der Haus- und Wohnungseigentümer seien über Monate hinweg Betroffene aufgerufen worden, an einer Befragung teilzunehmen, berichtet Markus Artz im Gespräch mit Kontext. Unter Leitung des Juristen hat die Forschungsstelle für Immobilienrecht das Phänomen untersucht. Nach der aufwändigen Kampagne wurden der Universität schließlich 1347 Fälle gemeldet. "Bei den meisten stellte sich aber heraus", sagt Artz, "dass es sich gar nicht wirklich um Mietnomaden handelte".

So schrumpfte die Zahl der tatsächlichen Fälle auf 426 zusammen, die sich auf mehrere Jahre verteilen. Die Schadenssumme liege nach Angaben der Vermieter in 45 Prozent aller Fälle unter 5000 Euro und weitere 30 Prozent blieben unter 10 000. Artz betont dabei, dass seriöse Aussagen über die genaue Größenordnung der jährlichen Fälle unmöglich seien, die Studie sei zudem eher qualitativ als quantitativ. Dennoch lasse sich festhalten, dass das Problem offenbar "dramatisch überschätzt" werde und die gefühlte Betroffenheit größer sei als die tatsächliche. Noch deutlicher <link http: www.jura.uni-bielefeld.de institute fir materialien artzhhmietnomaden.pdf external-link-new-window>kommentierte Franz-Georg Rips, der Präsident des Deutschen Mieterbundes: "Es existiert kein nennenswertes Mietnomadenproblem in Deutschland." Anders hingegen die Einschätzung bei Haus & Grund: "Dieses Ergebnis übertrifft unsere schlimmsten Befürchtungen", interpretierte der damalige Präsident Rolf Kornemann die wissenschaftlichen Befunde. Der Mietbetrug habe "mittlerweile offensichtlich Dimensionen angenommen, die der Gesetzgeber nun nicht länger ignorieren" könne.

Und tatsächlich: Die schwarz-gelbe Koalition folgte, der empirischen Evidenz ungeachtet, den Empfehlungen der Grundbesitzer und verschärfte 2012 das Mietrecht, angeblich um besser gegen Mietnomaden vorgehen zu können. Doch auch solche Mieter, die gar nicht mutwillig die Zeche prellen, sondern aus finanziellen Engpässen in zwischenzeitliche Zahlungsrückstände geraten, <link https: www.heise.de tp news das-mietrecht-wurde-verschaerft-2024627.html external-link-new-window>können seit der Änderung leichter vor die Tür gesetzt werden. 

"Bitte verwenden Sie die richtigen Zahlen"

Noch heute führt Haus & Grund das Randphänomen der Mietnomaden an, um politische Forderungen zu untermauern – etwa um Leerstand zu rechtfertigen. So will Ulrich Wecker, Geschäftsführer von Haus & Grund Stuttgart und Chefredakteur der baden-württembergischen Mitgliederzeitschrift, "nicht ausschließen, dass ein Vermieter, nachdem er einem Mietnomaden aufgesessen ist, vor lauter Enttäuschung seine Wohnung einmal leerstehen lässt." Jürgen Zeeb, der als Fraktionsvorsitzender für die Freien Wähler im Stuttgarter Gemeinderat sitzt, brachte diese Einschätzung <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne das-kapitalistische-manifest-5165.html internal-link-new-window>wortgleich in die Generaldebatte Wohnen ein, in deren Rahmen sich die Kommunalpolitik Mitte Juni mit der zunehmenden Wohnungsnot auseinandersetzte.

Aber wie viele Fälle von Mietnomadentum gibt es eigentlich in der Region? Auf Anfrage beim Rathaus Stuttgart erläutert ein Sprecher der Stadt, dass die Verwaltung keine belastbaren Zahlen vorlegen könne, da es sich "bei Mietrückständen um privatrechtliche Auseinandersetzungen handelt". Nach Angaben der städtischen Wohnungsbaugesellschaft SWSG werden nur bei einem von 200 Mietern in den ersten zwölf Monaten überhaupt Zahlungsrückstände registriert. Meist nicht, weil eine betrügerische Absicht vorliegt, überwiegend seien es "persönliche Gründe, die zu Rückständen führen", etwa verursacht durch Schicksalsschläge. Der Mietnomade ist im Gegensatz dazu per Definition "jemand, der eine Wohnung mit dem Vorsatz mietet, niemals Miete zu zahlen, und erst im Zuge einer Räumungsklage auszieht".

"Eigentlich besteht kaum eine Gefahr", sagt Markus Artz von der Uni Bielefeld, "einem Betrüger aufzusitzen, wenn man Interessenten ordentlich überprüft". Als Vermieter sei es legitim, die Solvenz von Mietinteressenten ermitteln zu wollen. Dazu biete das Gesetz ausreichend Möglichkeiten, etwa durch eine Schufa-Auskunft oder Einkommensnachweise. "Mit dem Mietnomadentum Leerstand rechtfertigen zu wollen, halte ich für vorgeschoben. Das ist Kokolores."

Also noch eine Anfrage bei Haus & Grund, wie groß das Problem in der Landeshauptstadt eingeschätzt wird. "Für Stuttgart gibt es keine konkrete Erhebung", antwortet Lokalchef Ulrich Wecker, das Problem stelle "in den absoluten Zahlen keine große Bedeutung dar". Bundesweit gehe Haus & Grund (Stand 2018) von 15 000 Fällen aus. Wenn es einen Vermieter treffe, "ist es wirklich hart", dann belaufe sich der Schaden "schnell auf 30 000 bis 50 000 Euro". Und schließlich der freundliche Appell, beim <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne schaubuehne-leerstand-5215.html internal-link-new-window>Stuttgarter Leerstand-Problem nicht zu übertreiben: "Um einer unzutreffenden Einordnung in Ihrem tendenziösen Blatt aber auch schon vorzubeugen, bitte ich die richtigen Zahlen zu verwenden." Ob der gleiche Anspruch für den eigenen Verein gilt?


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


13 Kommentare verfügbar

  • Mike T
    am 15.07.2018
    Antworten
    Selbstgemachte Wohnungsknappheit
    Nach 2 Mietnomaden in 10 Jahren vermieten wir die Einliegerwohnung nicht mehr. Wir bleiben auf unseren Kosten sitzen. Ein Gerichtsverfahren kostet bei 5000 € schlechtem Geld weitere 1000 € gutes Geld. Der Titel ist nach kurzer Zeit obsolet durch erleichterte…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!