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Zugpferd und Zumutung

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Die Situation ist paradox: Winfried Kretschmann, der für viele Grüne zu sehr nach der CDU und der Wirtschaft schielt, soll als Zugpferd im Bundestagswahlkampf bis hoch in den Norden Stimmen holen. Und im Extremfall damit Rot-Rot-Grün ermöglichen.

Eine gute Woche haben die 61 000 Mitglieder der Grünen noch Zeit, per Urwahl die Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl zu bestimmen. Wäre es nach Kretschmann gegangen, hätte es den Mitgliederentscheid "Basis ist Boss" in dieser Form womöglich gar nicht gegeben. Im vergangenen April, nach dem zweiten historischen Wahlerfolg seiner Partei im Südwesten, sprach sich der Oberrealo für die Abkehr von der Doppelspitze aus. Die Ämterteilung sei "überholt", die Wählerschaft wünsche sich "eine eindeutige Personalisierung". Er sieht sich selbst als besten Beweis für die Richtigkeit der These.

Es sind solche Zwischenrufe aus Stuttgart, an die sich die Bundespartei zuerst gewöhnen musste, um dann eine Gegenstrategie zu entwickeln. Gelassenheit statt Abwehrreflex, lautet die Devise. Die Doppelspitzen-Debatte ist im Sand verlaufen: Wie eh und je werden die Grünen im kommenden Herbst mit einem Duo in den Wahlkampf ziehen. Dem derart pragmatischen Umgang mit dem neben Joschka Fischer erfolgreichsten Grünen sind allerdings Grenzen gesetzt.

In der Steuerpolitik ist Kretschmann nicht mehrheitsfähig

In einschlägigen Papieren wird der Dissens, etwa in der Steuerpolitik, offenkundig. Kretschmann spreche sich gegen die Vermögensteuer aus, heißt es auf der Homepage der Bundesgrünen, denn er "befürchtet, dass sie den Mittelstand schwächen würde, der 'eine der stabilsten Säulen gegen den Raubtierkapitalismus' sei". Und nur ein paar Absätze später: "Wir wollen eine höhere Reichenbesteuerung einführen. (...) Selbstverständlich legen wir dabei besonderen Wert auf den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Innovationskraft von Unternehmen." Aber diese Art der Einheit in der Vielfalt würde aus dem Wahlprogramm eine Multiple-Choice-Liste machen. Also müssen steuer- oder wirtschaftspolitische Konflikte spätestens bis zum entscheidenden Bundesparteitag Mitte Juni in Berlin ausgefochten sein. Dass der Mann aus Laiz bei Sigmaringen bis dahin mehrheitsfähig wird mit seiner Position, ist so gut wie ausgeschlossen.

Muss er aber auch nicht, sagen nicht nur Parteistrategen, die auf seine Strahlkraft setzen. In einem der vielen Interviews zum Jahreswechsel hat der Tübinger Politikwissenschaftler Josef Schmid analysiert, wie Kretschmann "selbst hoch im Norden sehr beliebt ist" - wiewohl kaum einer wisse, "wofür er wirklich steht". Aber: "Sein Image funktioniert." Gerade die Bundespräsidenten-Debatte habe gezeigt, "wie populär er ist und wie er in weiten Kreisen geachtet wird".

Dazu sitzt ein Wahlkampffuchs quasi Tür an Tür im Staatsministerium. Rudi Hoogvliet, Regierungssprecher seit 2011 und engster Mitarbeiter seit 15 Jahren, hat in der Vergangenheit gleich drei Mal Stuttgart vorübergehend den Rücken gekehrt, um in Berlin die Kampagne der Bundespartei zu managen. Nach dem ersten Triumph im Land war er enttäuscht, dass sich die Parteispitze in der fernen Hauptstadt nicht mehr interessiert für das Erfolgsrezept aus dem Südwesten. Selbst republikweit lagen die Grünen damals bei 20 Prozent, erinnert er sich. Es sei aber kein Versuch unternommen worden, diese Menschen zu halten. Hoogvliet ist überzeugt, dass weiterhin mindestens 15 Prozent erreichbar sind - mit der richtigen Politik und der richtigen Ausstrahlung.

Für Letzteres ist der Ministerpräsident zuständig, weit über die Landesgrenzen hinaus. Kein anderer Regierungschef hält sich derart anhaltend in der Spitzengruppe der beliebtesten Politiker Deutschlands. Im letzten Politbarometer des Jahres 2016 liegt er vor der Kanzlerin, vor Wolfgang Schäuble, vor Sigmar Gabriel ohnehin und vor Horst Seehofer erst recht. Nur zum Vergleich: Kretschmann kommt auf der bis fünf reichenden Skala auf den Wert 2,0 und der Bayer bundesweit gerade mal auf 0,3.

"So, du altes Arschloch, treff i di au mol wieder"

Natürlich werden die Grünen im Wahlkampf wuchern mit diesem Pfund, zumal der 68-Jährige auch noch seine Talkshow-Abstinenz überwunden hat. Nach Sandra Maischberger gab er gerade erst Markus Lanz die Ehre, plauderte aus, dass er noch schlechter Englisch spricht als Oettinger oder dass ihm die Weltläufigkeit für das Amt des Bundeskanzlers fehle. Selbst der Schwäbisch-Testlauf auf großer Bühne gelang. Wenn seine Landsleute sagten, "So, du altes Arschloch, treff i di au emol wieder!", sei das "gar nicht böse gemeint". Der Applaus war riesig. Und alle Grünen bundesweit, die wegen eines Kretschmann-Auftritts in ihrem Gäu angeklopft haben, hoffen auf eine Zusage.

Programmiert sind angesichts solcher Höhenflüge immer neue Konflikte im Verhältnis zum ohnehin schwierigen Koalitionspartner CDU. Auch deren Bundesspitze muss auf Baden-Württemberg schauen. Immerhin steuerte der Südwesten 2013 fast 46 Prozent zum Ergebnis bei, während die Grünen sogar hierzulande bei elf Prozent hängenblieben. Thomas Strobl versucht eine Profilierung eher am rechten Rand seiner Partei, obwohl alle Analysen des Landtagswahlergebnisses erbracht haben, dass Kretschmanns Schulterschluss mit der Kanzlerin Gold wert war.

Die Diskussionen um eine Sammelabschiebung nach Afghanistan vor Weihnachten war da nur der Anfang. Der CDU-Landeschef und Innenminister bleibt dabei, dass im kommenden Jahr rund eine halbe Million Menschen aus der Bundesrepublik in ihre alte Heimat abgeschoben werden müssen. Davon entfielen rein rechnerisch 65 000 auf Baden-Württemberg und damit mehr als sechsmal so viele wie 2016. Das werden nicht nur die Fundis im grünen Landesverband nicht mitmachen. Und noch ein Dauerbrenner droht: Stuttgart 21. Der Regierungschef würde die immer neuen Probleme am liebsten ignorieren, während Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn und Verkehrsminister Winfried Hermann, aktuell in Sachen Anhydrit, wenigstens Aufklärung in allen Details von der Bahn verlangen. Wenig genug.

Die Frage ist, wie viel Kretschmann seiner Partei zumuten kann

Kretschmann war schon in den fünf Jahren Grün-Rot kein Freund immer neuer Machtworte. Im Bundestagswahlkampf wird ihm aber nicht erspart bleiben, hinter den Kulissen Tacheles zu reden mit Strobl und den Seinen. Und er wird austarieren müssen, wie viele programmatische Alleingänge er seiner Partei eigentlich zumuten kann. Zentrale Beschlüsse der vergangenen Bundesdelegiertenkonferenz haben unterstrichen, dass die Realos im Landesverband nicht nur in der Steuerfrage alleinstehen.

Ein wichtiges Beispiel, gerade mit Blick auf Rot-Rot-Grün, ist der Umgang mit Arbeitslosen: "Wir wollen ein Ende der Praxis von Androhung und Bestrafung, die in vielen Job-Centern und Arbeitsagenturen Realität ist und setzen stattdessen auf Motivation, Anerkennung und Beratung auf Augenhöhe". Hartz IV-Sanktionen seien ein Hindernis dafür, dass sich Fallbearbeiterinnen und Arbeitssuchende auf gleicher Augenhöhe begegnen könnten und gefährdeten zudem ein menschenwürdiges Existenzminimum: "Daher wollen wir sie abschaffen."

Sozialminister Manfred Lucha hatte auf dem Parteitag im Münster wortreich dagegen gekämpft und verloren. Auch er kann Rot-Rot-Grün wenig abgewinnen. Die Konstellation ist nach der Demoskopie zurzeit ohnehin wenig wahrscheinlich. Es könnte aber sogar insgesamt eng werden. Und vielleicht muss der "Star der Grünen" (Markus Lanz) seine ganze Reputation für eine Regierungsbeteiligung in die Waagschale werfen. Denn in der ersten Umfrage im neuen Jahr - durchgeführt vom Erfurter Institut INSA, das bei den kleinen Parteien und der AfD oft richtig liegt - hätte Schwarz-Grün im Bund aktuell keine Mehrheit, weil die Union danach mit 32 Prozent extrem schwächelt.

Die eigene Mitgliedschaft will der Bundesverband mit dem Mitgliederentscheid in einen ersten Vorwahlkampfschwung bringen. Den Frauenplatz hat Katrin Göring-Eckhardt mangels Gegenkandidatin bereits fest. Bei den Männern dürfte Cem Özdemir das Rennen machen, womit die Grünen einen der alten Grundsätze über Bord geworfen hätten. Die Spitzenkandidaten wären beide Realos, der linke Flügel bliebe - was bisher unüblich war - unberücksichtigt.

Özdemir schlägt auf die Frage, was die Grünen eigentlich aus dem enttäuschenden Wahlergebnis 2013 gelernt haben, schon mal den Bogen zum Erfolgsgaranten aus dem eigenen Landesverband: "Wir brauchen eine begeisternde Sprache, die gerade bei denen ankommt, die sich nicht jeden Tag mit Politik beschäftigen." Kretschmann habe gezeigt, dass es darum gehe, den Kopf und das Herz der Wähler und Wählerinnen zu erreichen. Oder wie sagt die Heidelberger Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner: "Der Winfried" sei nicht zu kopieren, "aber man kann seinen Erfolg kapieren". Welchen Preis die Grünen dafür zu zahlen haben, wird sich zeigen.


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12 Kommentare verfügbar

  • andromeda
    am 10.01.2017
    Antworten
    Vielen Dank @ Fritz , mß ich gar nix hinzufügen .
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