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S 21: durchgefallen, schöngerechnet

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Vor fünf Jahren hätte Stuttgart 21 endgültig scheitern müssen. Denn der Tiefbahnhof hatte den Stresstest nicht bestanden. Daran änderten auch eilends nachgeschobene Absichtserklärungen der Deutschen Bahn nichts.

Die Fahrplanrechner, die Abstimmer und die Anpasser bei der DB arbeiteten auf Hochtouren, damals im Spätsommer 2011. Und die Grafiker ebenfalls. Denn auf den Tisch musste bis Mitte September der "Finale Abschlussbericht zur Fahrplanrobustheitsprüfung". Ein 72-seitiges Papier, das noch heute vor allem besticht durch bunte Eyecatcher.

"Umgesetzt" ist vollmundig auf den schöngerechneten Stresstest gestempelt. Grüne Haken werden verteilt wie in einem Schulheft der Sechzigerjahre, Begriffe wie "Optimal" oder "Premium" oder "Erledigt" sollten hervorstechen. "Nur die Kosten sind Premium, der Nutzen ist mehr als fragwürdig", kontert Verkehrsminister Winne Hermann (Grüne) ungerührt. Sich Gehör verschaffen in der breiten Öffentlichkeit konnte er nicht wirklich. So wenig wie viele andere, die sich von den vielen plakativen Behauptungen nicht blenden lassen wollten.

Der Prestigekampf strebte seinem Höhepunkt, der Volksabstimmung, entgegen. Der "Finale Abschlussbericht" hätte gerade deshalb noch einmal auf Herz und Nieren geprüft werden müssen. Gerade die Befürworter hätten Belege dafür anfordern müssen, dass tatsächlich "nach Umsetzung der Nachbesserungen im Datenmodell mindestens 49 Zugankünfte in der Spitzenstunde im Bahnhof Stuttgart Hbf mit wirtschaftlich-optimaler Betriebsqualität realisiert werden können".

OB Schuster beerdigte Geißlers Kombivorschlag

Stattdessen wurden die Simulationen nicht einmal gegen den von Heiner Geißler und SMA-Chef Werner Stohler Ende Juli präsentierten Kombivorschlag ("Frieden in Stuttgart") gestellt. Denn den hatte OB Wolfgang Schuster mit großer Geste und nach angeblich 25-stündiger Prüfung schon Tage vor der Veröffentlichung des "nachjustierten Stresstests" beerdigt. "Die Behauptungen und Feststellungen im Kombikonzept sind in keinem Punkt nachgewiesen", dröhnte Schuster.

Das war aber noch längst nicht die größte Dreistigkeit dieser Septembertage. DB-Chef Rüdiger Grube stilisierte S 21 zum Lackmustest dafür, ob "sich Deutschland selbst aus der ersten Liga der erfolgreichen Wirtschaftsnationen herauskatapultiert". Es versprach, "dass im gesamten Personenverkehr, also S-Bahnen, Regional- und Fernzüge zusammen, eine Pünktlichkeitsquote von über 90 Prozent erreicht wird". Ein trauriger Witz angesichts der Tatsache, dass zum Beispiel im Fernverkehr bundesweit derzeit die 90-Prozent-Marke nur erreicht werden kann, wenn fünf Minuten Verspätung auch noch als "pünktlich" gelten. Sogar mit 15 Minuten wird gerechnet, um die Kurven hoch zu halten.

Noch voller nahm der DB-Chef den Mund in Sachen Informationspolitik für die am 27. November 2011 stattfindende Volksabstimmung: "Wir werden die Fakten auf den Tisch legen, denn wir werden glaubwürdig bleiben." Kaum ein namhafter Befürworter hatte das jemals im Sinn. Stattdessen wurde eine beispiellose Kampagne gestartet, wurden Millionen investiert und Sprüche geklopft wie "fertig bauen statt weiter ärgern", obwohl alle wussten, dass außer einer von Günther Oettinger inszenierten Prellbock-Versetzung und dem Stefan Mappus anzurechnenden Kahlschlag im Schlossgarten nichts geschehen war.

Im Monitoring-Bericht des Plebiszits kritisiert "Mehr Demokarte" ein Jahr später fehlende Ausgabenlimits und die fehlende Offenlegung der Finanzen als unfair: "Geld ist eine wichtige Ressource bei Kampagnen, die zur Bevorteilung einer Seite führen kann. Ausgabenlimits, wie sie zum Beispiel in Großbritannien existieren, und Offenlegungspflichten können mögliche Ungleichgewichte transparent machen und abmildern." Das Aktionsbündnis gegen S 21 habe über 500 000 Euro verfügt, die Pro-Seite "nach Schätzungen über das vier- bis fünffache Abstimmungsbudget".

Große Sprüche, keine Fakten

Auch Schuster bekommt noch einmal sein Fett weg, unter anderem, weil er versucht hatte, alle Stimmberechtigten in der Landeshauptstadt persönlich per Brief von der Sinnhaftigkeit der Milliardeninvestition zu überzeugen. Und wer verantwortet eigentlich die Pro-Argumente in der von der Landesregierung herausgegebenen Broschüre? Da hieß es allzu kühn, Stuttgart 21 sei im Kostenrahmen und halte einen Puffer für Baupreissteigerungen vor. Oder: "S 21 hat den Stresstest bestanden und ist damit als leistungsfähiger Knoten bestätigt worden."

Claus Schmiedel ist hochverdächtig. Der damalige SPD-Fraktionschef hatte jedenfalls hinter den Kulissen schon versucht, gemeinsame Sache mit der CDU zu machen. Das allerdings war aufgeflogen. Aus dem bunten Strauß seiner kühnen Lobsprüche stach eines besonders heraus: dass auf dem Projekt Gottes Segen liege. Überhaupt hatte der inzwischen nicht mehr in den Landtag gewählte Ludwigsburger eine Schlüsselrolle. Er war es, der – am Tag, als die Resultate des Stresstest publik wurden - blitzschnell erkannte, dass den Gegnern die Deutungshoheit über die Bewertung entrissen werden muss. Wenn schon Gott im Spiel ist, wog diese Sünde am schwersten.

Im Schlichterspruch war vereinbart worden, die DB müsse "den Nachweis führen, dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualität möglich ist". Noch spannender ist der nächste Satz: "Dabei müssen anerkannte Standards des Bahnverkehrs für Zugfolgen, Haltezeiten und Fahrzeiten zur Anwendung kommen." Von wegen anerkannte Standards. Wieder spielt der allzu lockere Umgang mit Verspätungen eine Rolle. Statt wie bis dahin üblich 20 Minuten zugrunde zu legen, wurden nur noch fünf simuliert, außerdem die Regeln einer "wirtschaftlich optimalen Betriebsqualität" abgemildert und auf echten Stress durch Notfälle ganz verzichtet.

Farbenblindheit bei S-21-Befürwortern

Tübingens grüner OB Boris Palmer, in Nebenberuf bekanntlich Fahrplanexperte, konnte zügig ganze 60 Regelverstöße aus der Dokumentation des Tests herauslesen: "Stuttgart 21 hat nicht mit Note gut bestanden, sondern ist mit mangelhaft durchgefallen." Aber Schmiedels Botschaft, beklatscht von CDU und FDP, von Grube und Schuster sowieso, war griffiger: "Die Gutachter geben grünes Licht." Was nur bei Farbenblindheit behauptet werden konnte und kann.

Trotz der Nachbesserungen wurde und wird die Kapazität von 49 Zügen nicht erreicht. Seriös errechnet sind in der morgendlichen Spitzenstunde zwischen 32 und 38. Weil aber weiterhin Simulation gegen Simulation und Papier gegen Papier steht, anerkennen Hardcore-Befürworter solche Prognosen bis heute nicht an. Dass aber der Praxistest auf den Stresstest folgt, darf sich niemand wünschen – das Chaos im Tiefbahnhof wäre programmiert. Dann schon lieber Kombi und "Frieden in Stuttgart".

Mal schauen, wie anno 2021 der Zehn-Jahres-Rückblick auf die entscheidenden Wochen ausfällt. Die Hoffnung stirbt zuletzt.


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12 Kommentare verfügbar

  • Horst Ruch
    am 05.09.2016
    Antworten
    ....wenn die 7 Schwaben....wenn der Dürr nicht mit dem Teufel, der Oettinger mit dem Schuster, der Mappus mit der SPD den unseligen Pakt unter der Regie von Angela Merkel mit dem Ramsauer den Mehdorn durch den Grube ersetzen ließ, ja dann hätten wir seit Jahren den technisch aufgerüsteten…
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