Kurz nach halb elf. Jeder will der Erste sein, jeder hat Angst, zu spät zu kommen. Vor einer halben Stunde hat die Schwäbische Tafel in der Stuttgarter Hauptstätter Straße aufgemacht. Als Mihael den Wagen voller Milchreis und Fruchtjoghurt vor dem Kühlregal abstellt, stürzt sich die Kundschaft auf die Ware. Noch bevor er mit dem Einräumen anfangen kann, ist der halbe Wagen leer. "Das ist wie eine Raptorenfütterung", sagt er, eine Anspielung auf den Film "Jurassic Park". Raubtierfütterung könnte man auch sagen.

Mihael ist 34, gelernter Fahrzeugbauer, seit zwei Monaten bei der Tafel. Nach der Lehre hat er keinen Job in seinem Fach bekommen, bei der Agentur für Arbeit auf der Liste gestanden und sich mit befristeten Einsätzen via Zeitarbeitsfirmen durchgeschlagen. Sein Fazit: "Für die ist man nur Ware im Regal, die sie rausnehmen, wenn sie sie brauchen, und ansonsten wegwerfen." Zwei Jahre hat er bei Porsche am Band geschafft, doch auch das war immer nur die "gleiche monotone Arbeit", sagt er. Bei der Tafel ist er ein Ein-Euro-Jobber mit 30-Stunden-Woche. Er fühlt sich hier besser, wertgeschätzt und hofft, dass er auch über die befristeten sechs Monate hinaus bleiben kann.
Der Leonhardsladen in der Hauptstätter Straße ist der größte von den vier Tafeln in Stuttgart. 500 bis 600 Kunden kaufen hier täglich ein, Sozialhilfeempfänger, Aufstocker, unteres Einkommen. Jene, die den Laden am Laufen halten, sind nicht mehr die Ehrenamtlichen von früher. Es sind die Mihaels, die vom Jobcenter zugewiesen werden. Für etwa 50 der knapp 100 Mitarbeiter ist es eine sogenannte Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung, soll heißen, dass ihnen das schmale Gehalt nicht vom Arbeitslosengeld abgezogen wird. Inbegriffen sind auch noch die kostenlosen Lebensmittel, die sie während der Arbeitszeit verzehren dürfen, sowie ein warmes Mittagessen.
Ohne die Ein-Euro-Jobber geht nichts
"Die Ein-Euro-Jobber sind zwingend notwendig", sagt Marko Reimer, "ohne sie kämen wir nicht über die Runden." Der 46-Jährige ist stellvertretender Ladenleiter in der Hauptstätter Straße, hauptamtlich angestellt wie früher, als er noch bei Edeka schaffte. Und irgendwie zufriedener. Die Arbeit habe einen Sinn, sagt er, hier gehe es "nicht nur um Profit", die Tafel sei "für die Menschen da".
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Matthias
am 06.09.2016