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Rückbau mit Risiken

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Die Stuttgarter Netz AG ist mit ihrer Klage gescheitert, die Deutsche Bahn zur offiziellen Stilllegung des Stuttgarter Kopfbahnhofs zu zwingen. Dann nämlich hätte die Bahn das Gleisvorfeld nicht abreißen dürfen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts erlaubt aber auch den Abriss nicht ohne Auflagen.

Wieder einmal hat die Deutsche Bahn (DB AG) einen Sieg in einer juristischen Auseinandersetzung um ihr Milliardenprojekt Stuttgart 21 eingefahren. Doch anders als bei früheren Gelegenheiten verschweigt die S-21-Projektgesellschaft diesen Triumpf diesmal auf den eigenen Webseiten. Die jüngste Pressemitteilung ist der 17. Ausgabe des Projektmagazins "Bezug" gewidmet. Es macht mit einer Homestory über den badischen Tunnelbohrerkönig Martin Herrenknecht auf, von dessen Monstermaschinen sich eine beim Tiefbahnhofsbau durch den Stuttgarter Untergrund fräst.

Juristen wundert die Zurückhaltung wenig: Die Stuttgarter Netz AG (SNAG) hatte vor dem Verwaltungsgericht nicht gegen die Bauherrin Bahn, sondern gegen die Bundesrepublik Deutschland geklagt. Um zu verhindern, dass die für die Schieneninfrastruktur zuständige DB Netz AG nach Inbetriebnahme des unterirdischen Durchgangsbahnhofs oben das Gleisvorfeld des Kopfbahnhofs einfach abreißt. Ein Stilllegungsverfahren nach dem Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG), angeordnet durch das Eisenbahn-Bundesamt (EBA), hätte hohe Hürden vor einen Rückbau aufgebaut. "Die Bahn hätte die Übernahme und den Weiterbetrieb des Kopfbahnhofs europaweit ausschreiben müssen", erläutert SNAG-Vorstand Rainer Bohnet. Mit Übernahme von Kopfbahnhof und Gleisen wolle man regionalen Eisenbahnunternehmen einen diskrimierungsfreien Zugang zum Hauptbahnhof anbieten, so Bohnet. Ein Angebot, dass sich in erster Linie an Eisenbahngesellschaften richte, die mit ihren Fahrzeugen die strengen Auflagen des Tunnelbetriebs nicht erfüllen können. Für Dieseltriebwagen oder Dampflokomotiven ist der Tiefbahnhof aus Sicherheitsgründen tabu.

Juristisch argumentierte die Gesellschaft, die mehrere private Eisenbahnunternehmen vertritt, dass es sich beim Umbau des Bahnknotens Stuttgart um die Neuerrichtung eines unterirdischen Durchgangsbahnhofs bei gleichzeitiger Stilllegung des oberirdischen Kopfbahnhofs einschließlich des zugehörigen Gleisvorfelds handle. Die Bauherrin Bahn dagegen sah ein Stilllegungsverfahren schon immer für nicht notwendig an, weil bei Stuttgart 21 der Hauptbahnhof nur um seine Achse gedreht und unter die Erde verlegt werde. Der Staatskonzern sieht zudem in der SNAG keinen ernsthaften Interessenten, der die oberirdische Eisenbahninfrastruktur übernehmen und betreiben könnte, wie im Laufe der mündlichen Verhandlung deutlich wurde. Tatsächlich "beschäftigt" die Aktiengesellschaft mit Vorstand Bohnet, der früher Geschäftsführer der privaten Rhein-Sieg-Eisenbahn war, nur einen Mitarbeiter. Im Aufsichtsrat sind mit Klaus Arnoldi vom Verkehrsclub Deutschland und dem ehemaligen Bahnmanager Klaus-Dieter Bodack prominente S-21-Kritiker vertreten.

Das Gericht unter Vorsitz von Richter Wolfgang Kern folgte im Wesentlichen den Argumenten der Bahn. Beim Umbau des Bahnknotens werde weder der Betrieb von Strecken von und nach Stuttgart noch der Betrieb des Stuttgarter Hauptbahnhofes auf Dauer eingestellt. Es blieben vielmehr sämtliche bisher zwischen Stuttgart und anderen Bestimmungsorten bestehenden Bahnverbindungen erhalten. Im Rahmen von S 21 würden lediglich die Streckenführungen dieser Strecken geändert, um diese an den künftigen unterirdischen Durchgangsbahnhof anzubinden.

Rückbau des Gleisvorfelds ohne Planfeststellungsverfahren unzulässig

Zugleich stellte das Gericht aber auch fest, dass der Rückbau des Gleisvorfelds ohne vorherige Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens unzulässig sei. Da die Stuttgarter Netz AG in diesem Verfahren ihre Interessen noch geltend machen und gegebenenfalls auch gerichtlich durchsetzen könne, fehle es unter anderem an einem besonderen Rechtsschutzinteresse, und deshalb sei die Klage unzulässig.

"Wir haben unser Hauptziel der Klage verfehlt", räumt SNAG-Vorstand Bohnet gegenüber Kontext ein. Nun werde es deutlich schwieriger, den Kopfbahnhof und seine Zulaufstrecken zu erhalten. In einem Planfeststellungsverfahren spielten verkehrliche oder gar verkehrspolitische Fragen kaum eine Rolle. "Die umstrittene Kapazität des Tiefbahnhofs bleibt außen vor", so Bohnet.

Endgültige Gewissheit schafft das Urteil für keinen Beteiligten. Zum einen hat die Kammer wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache die Berufung zum Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim sowie die Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen. "Ich tendiere zur Sprungrevision", verrät Bohnet, eher eine höchstrichterliche Entscheidung anzustreben als den Gang über den Mannheimer Gerichtshof zu wählen. Das weitere Vorgehen hänge aber von etlichen Faktoren, etwa den finanziellen, ab, betont er. Entscheiden muss er sich bis zum 19. September. Im Verfahren betonte die SNAG, nicht die gesamten oberirdischen Gleisanlagen im Stuttgarter Talkessel erhalten zu wollen. "Unser Ziel ist nicht der komplette Kopfbahnhof, sondern der Weiterbetrieb von fünf bis sechs Bahnsteiggleisen samt ein- bis zweigleisiger Zulaufstrecken", so Bohnet. Diese Pläne kämen einer sogenannten Kombilösung nahe, die angesichts der vermuteten neuen Kostenexplosion bei Stuttgart 21 auf zehn Milliarden Euro jüngst vom BUND gefordert wurde. Auch im S-21-Schlichtungsverfahren im Herbst 2010 hatte Schlichter Heiner Geißler das Modell eines unterirdischen Durchgangsbahnhofs bei teilweisem Erhalt des oberirdischen Bahnhofs präsentiert.

Die Kombilösung würde städtebauliche Entwicklungen auf dem Großteil der bisherigen Bahnflächen weiter erlauben. Allerdings müsste etwa das auf dem bisherigen Abstellbahnhof anvisierte Rosensteinquartier dann unter anderen Prämissen geplant werden. Bislang sind dort 50 Hektar für Wohnen und Arbeiten angedacht, um 20 Hektar sollen die Parkanlagen erweitert werden, und zehn Hektar sind für Grünanlagen sowie öffentliche Plätze vorgesehen. Schlossgarten und Rosensteinpark sollen von allen Seiten zugänglich werden. "Wohnen am Gleis muss kein Nachteil sein. Die Eisenbahn im Jahr 2020 ist nicht mehr dreckig und laut", sagt dazu Bohnet.

Für die Landeshauptstadt Stuttgart, die bereits Ende 2001 für 459 Millionen Euro insgesamt 105 Hektar Gleisflächen von der Deutschen Bahn erworben hat, scheint dies keine Option. Der jüngste Urteilsspruch habe die Position der Stadt bestätigt, dass Stuttgart 21 kein Stilllegungsverfahren erfordert. "Daher bleibt alles wie gehabt", betont Sprecher Sven Matis. Man plane weiterhin gemeinsam mit den Bürgern das neue Quartier. "Klar ist, dass keinerlei oberirdische Gleise oder Bahnsteige der Gestaltung im Wege stehen", so Matis. Einen Plan B, falls das EBA doch oberirdische Gleisanlagen vorschreibt, habe man nicht.

Die Gleisflächen könnten noch teuer werden – für die Stadt

Es bleiben weitere Unsicherheiten. Etwa, wann die Flächen tatsächlich zur Verfügung stehen, um darauf den dringend benötigten Wohnraum zu erstellen. Anfang Juni wurde bekannt, dass der Bahnvorstand dem Aufsichtsrat des Unternehmens eingestehen muss, dass Stuttgart 21 womöglich erst zwei Jahre später fertig wird. Offiziell wird als Inbetriebnahmetermin bislang immer das Jahr 2021 genannt.

Vertraglich mit der Stadt Stuttgart vereinbart ist die Übergabe sogar bereits zum 31. Dezember 2020. Sollte es später werden, sind Verzugszinsen fällig. "Was den Zeitplan anbetrifft, halten wir uns an den Vertrag", sagt der Stadtsprecher zwar. Doch selbst bei Inbetriebnahme Ende 2021 wären die Flächen kaum vor 2025 verfügbar, weil der Zugbetrieb erst umgestellt, die Gleisanlagen abgebaut und etwaige Altlasten beseitigt werden müssen. Damit drohen der Bahn Zinszahlungen von rund 100 Millionen Euro.

Ursprünglich sollten die S-21-Flächen bereits Ende 2010 verfügbar sein. Auf Drängen des damaligen Oberbürgermeisters Wolfgang Schuster (CDU) verzichtete der Gemeinderat jedoch auf Verzugszinsen von jährlich 21,9 Millionen Euro, welche die Bahn wegen der verspäteten Räumung der S-21-Grundstücke hätte zahlen müssen.

Doch selbst wenn die Landeshauptstadt ab 2021 Verzugszinsen kassiert: Im Grundstücksdeal lauern weitere teure Risiken. Der Kaufvertrag verpflichtet die Bahn lediglich dazu, die Bahnflächen im "freigemachten Rückbauzustand" zu übergeben. Dies heißt, dass der Konzern Gleise, Weichen, Schwellen und Schotter, technische Einrichtungen wie Signale und Leitungen sowie Gebäude auf eigene Kosten entfernen muss. Auf dem Altlasten-Risiko, das nach mehr als 100 Jahren Eisenbahnbetrieb nicht unerheblich sein dürfte, bleibt allein die Stadt Stuttgart sitzen. "Das Thema wurde kaufpreismindernd berücksichtigt", betont Sprecher Matis zwar. Nach früheren Kontext-Recherchen hat die Bahn bereits Ende 2001 der Stadt rund 32 Millionen Euro "für Bodenaushub und Geländemodellierung" überwiesen. Sollte das nicht reicht, bleibt die Stadt auf den Mehrkosten sitzen. 


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3 Kommentare verfügbar

  • Michael
    am 14.10.2016
    Antworten
    Die Berufungsfrist ist am 19.9. abgelaufen. Ist bekannt, wie er sich entschieden hat?
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