Die gegenteilige Entwicklung, nämlich die Folgen eines Schwindens jenes Raums für neue Lebensentwürfe, skizziert Nachtwey, wenn er die aktuellen Auswirkungen neoliberaler Politik beschreibt. Er benutzt den Begriff der "regressiven Modernisierung" und belegt, wie sich sowohl die materielle Situation in der Gesellschaft schleichend, aber kontinuierlich verschlechtert, als auch die Furcht vor dem Abstieg wächst. Spaltungen in der Gesellschaft, Exklusion und Prekarisierung nehmen zu.
In dieser Regression schwimmt die Linke heute gewissermaßen mit. Ihr sei, so Nachtwey, eine optimistische Perspektive abhanden gekommen, die Gewissheit, dass es besser werden könne. Die Linke blickte immer "erwartungsfroh und hoffnungsvoll nach vorn. Man war davon überzeugt, dass die Zukunft besser sein werde, für einen selbst und für die eigenen Kinder." Diese Hoffnung sei nun gebrochen, größtenteils aufgegeben, die Linke im Grunde zu einer konservativen "Nachhut" geworden.
Das erinnert an Nassehis Diagnose, wonach Linke heute "links reden und rechts handeln" würden. Nur ist dies kein historisch neues Phänomen oder gar ein neues Kennzeichen "der Linken". Es ist vielmehr eine Reaktion auf jene regressive Modernisierung und zeigt, wie sehr die Linke selbst in der neoliberalen Ideologie verfangen ist.
Das System ist immer noch nicht aus den Angeln gehoben
Die Erzählung der Linken über sich selbst ginge etwa so: Als "archimedischer Punkt", von dem aus sich das System aus den Angeln heben ließe, wurde die Arbeiterbewegung gesehen. Denn im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen links und rechts stehe der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital. Er habe in Gestalt der Arbeiterklasse seine höchste Zuspitzung und in der Übernahme einiger Staatsapparate durch sozialistische Parteien seine größte Überwindung erfahren.
Die Studentenbewegung und die außerparlamentarische Opposition der 1960er- und 1970er-Jahre wiederum seien gewissermaßen als intellektueller Arm dieses Gegensatzes zu sehen. Studentische Betriebskampfgruppen und Flugblattverteiler mühten sich redlich, der Arbeiterklasse zu Bewusstsein zu verhelfen. Zwar tauchten Arbeiter und Bauern in Gestalt badischer Winzer, die sich gegen das AKW Wyhl zur Wehr setzten, noch einmal als Verbündete auf. Aber für einen großen Teil der Linken stellt sich mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten die Frage, was denn eine Linke überhaupt noch ausmacht. Diese Erzählung der Linken hat tatsächlich ihr Ende gefunden, viele der thematisierten Probleme aber sind geblieben.
Drängende Fragen, die sich heute stellen, sind: Wie können die Mechanismen der Individualisierung und Deprivation aufgedeckt werden, anstatt in identitäre Volksgemeinschaft und Opfermentalität umzuschlagen? Was lässt sich gegen die durch den Neoliberalismus erzeugte Verarmung und Verelendung tun, die mit einer gigantischen Konzentration von Reichtum einhergeht? Wie ist eine Gesellschaft der Angst zu transformieren in eine Gesellschaft, die sich politisch handelnd selbst gestaltet?
Aber nicht nur diese Themen liegen als Probleme auf dem Tisch. Ebenfalls vorhanden und wirkmächtig sind Erfahrungen von Freiheit. Sie finden sich seit etwa 2000 Jahren in Begriffen und Bezeichnungen gespeichert, die wir ganz selbstverständlich benutzen, während sie ihres emanzipatorischen Bedeutungsgehalts zunehmend beraubt sind und oft missbraucht werden: Wörter wie "das Politische", "Demokratie" oder "Zivilgesellschaft" erinnern an solche Lebensformen, während der die Menschen die Erfahrung gemacht haben, dass sie selbst es sein können, die ihr Zusammenleben regeln, und es keine Unterteilung in Herrscher und Beherrschte gibt.
Dies mag als utopisch zurückgewiesen werden. Doch zu einer aktuellen Gewissheit wird immer mehr, dass das Beharren auf einem Wachstumsmodell, welches seine eigenen Grundlagen permanent ausbeutet und untergräbt, illusorisch ist und obendrein autoritative, menschenfeindliche Aufbegehren rechter Bewegungen erzeugt.
"Die Linke" jedenfalls ist keine Menge, die man einmal herstellt, und schon gar keine Partei, in die man eintreten kann, und dann ist man links. Eine emanzipatorische Linke – genau genommen gibt es keine andere – zeigt sich vor allem als eine Lebensform, die von der Frage geleitet wird, wie die Welt als eine für alle Menschen gemeinsam zu bewohnende, als Gemeinwesen, gestaltet werden kann.
Annette Ohme-Reinicke, Jahrgang 1961, ist Dozentin am Institut für Philosophie der Uni Stuttgart. Ihr Schwerpunkt sind soziale Bewegungen. Sie gehört zu den GründerInnen des Stuttgarter Hannah-Arendt-Instituts.
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Heinrich Triebstein
am 09.09.2016Joseph Stiglitz benennt 2011 das Eine Prozent. Occupy, großmäulig: Also sind wir die 99…