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Links oder rechts?

Links oder rechts?
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Man blickt ja kaum mehr durch: Ein Bürger oder eine Bürgerin demonstriert montags gegen Stuttgart 21, anderntags gegen den Bildungsplan und dann gegen TTIP. Sind das jetzt rechte Linke oder linke Rechte? Eine Orientierungshilfe.

Armin Nassehi, Soziologe und Herausgeber des "Kursbuchs", in dem sich seit den 60er-Jahren ein "Kurs" der Linken finden sollte, stellt dazu fest, die Linke würde heute "links reden und rechts leben". Links und rechts seien "keine Alternativen" mehr, die Gesellschaft sei zu komplex und müsse ganz neu beschrieben werden.

Das Querfront-Konzept der Rechten will die Aufhebung der Unterscheidung: Die Idee ist, dass sich Linke und Rechte gegen den Kapitalismus, insbesondere gegen das US-amerikanische Finanzkapital zusammenschließen sollten. Seit einigen Jahren versuchen diese rechten Gruppen, Linke zu integrieren und in einer nationalistischen Ausrichtung zusammenzufassen.

Die Linke sitzt in der nationalen Falle

Für Rainer Forst, Philosoph an der Uni Frankfurt, verharrt die Linke in einer "nationalen Schockstarre". Während die Erzählung der westlichen Gesellschaften vom Selbstverständnis der Gerechtigkeit und des Fortschritts geprägt sei, hätten insbesondere die Flüchtlinge, die jetzt nach Europa kommen, das "große Aber" in unserer Gegenwart sichtbar werden lassen. Dieses "große Aber" sei eine "Form der globalen Apartheid", die nun ins Bewusstsein dringe. Die Linke, so Forsts Kritik, habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Anstatt die eigene Politik "transnational" auszurichten, sei ihr die "Sprache der Gerechtigkeit abhandengekommen" und sie sitze in der "nationalen Falle".

Auch der Soziologe Oliver Nachtwey stellt die Links-rechts-Unterscheidung nicht in Frage. In seinem eben erschienenen und sehr empfehlenswerten Buch "Die Abstiegsgesellschaft" benutzt er zudem den Klassenbegriff ganz selbstverständlich. Gerade die Klasse der Lohnabhängigen sei heute so groß wie lange nicht mehr. Er spricht von einer "Krise der linken Imagination: Was fehlt, sind plausible Visionen und mobilisierende Utopien".

Wie lassen sich linke und rechte Bewegungen heute unterscheiden? Hier einige idealtypische Merkmale:

Kommunikation: Akklamation versus Diskussion. Rechte lehnen es ab, ihre Aktivitäten zu begründen, sie geben in der Regel keine Interviews. Die eigene Sprachlosigkeit wird damit erklärt, dass man ohnehin immer Opfer der "Lügenpresse" sei. Statt kontrovers zu diskutieren, praktizieren rechte Bewegungen vornehmlich ein Ja-nein-Abstimmungsverhalten, Akklamation.

Die Kommunikation der Linken zeichnet sich aus durch Diskussionen, Streit, Aushandeln und die Verpflichtung zur Begründung. Leitend ist dabei die Frage, was das Beste für das Gemeinwesen ist.

Meinungsbildung: Propaganda versus Urteilsbildung. Rechte organisieren durch Propaganda anhand von Feindbildern. Dabei werden Versprechen gemacht, die nicht gehalten werden können. Etwa: Wenn keine Ausländer in Deutschland leben, haben die Deutschen mehr Arbeitsplätze. Oder: Nach einem Ausstieg aus der Europäischen Union geht es den Engländern besser. "Die Propaganda betrügt um das, was sie verspricht" (Max Horkheimer).

Linke bilden Meinungen und selbstständiges Urteilen auf der Grundlage gemeinsamer Debatten und Beratungen. Es geht nicht um personalisierte Feindbilder oder darum, Personengruppen als Feindbilder zu stilisieren, vielmehr werden Verhältnisse thematisiert, um sie verändern zu können.

Gleichheit: Homogenität versus gleiche Berechtigung der Verschiedenen. Die Vorstellung von Gleichheit gibt es auch innerhalb der Rechten. Diese Gleichheit entsteht allerdings durch Anpassung und Unterordnung. Da sich Rechte nur untereinander als Gleiche ansehen, ist ihre Gleichheitsvorstellung keine universelle. Sie kommt zustande durch Abgrenzung von anderen und gilt nur für bestimmte Gruppen. Etwa für die Gruppe der Blonden oder die Gruppe der Deutschen oder die der Nicht-Moslems. Innerhalb rechter Bewegungen werden Hierarchien gepflegt und Führer von Geführten verehrt. Das Verbindende sind oft "Treue" und Ergebenheit sowie die Unterordnung der Einzelnen unter die Heilsversprechen der Anführer.

Die Gleichheitsvorstellung der Linken geht davon aus, dass alle Menschen zwar verschieden, aber mit gleichen Rechten ausgestattet, also gleichberechtigt sind. Wir sind alle ungleich, haben aber die gleichen universellen Rechte und sind in dieser Berechtigung gleich. Chancengleichheit etwa kann es gar nicht geben, aber es ist möglich, Bildungsgerechtigkeit herzustellen.

Wir-Verhältnis: Freund-Feind-Unterscheidung versus Pluralität. Das "Wir" der Rechten entsteht in einer Masse vereinzelter Einzelner, deren wirkliches Merkmal Bindungslosigkeit ist. Ihr "Wir" konstituiert sich aus lauter einzelnen "Ich" und ist auf eine Freund-Feind-Konstruktion angewiesen. Wurden früher vor allem die Juden zum Feindbild gemacht, sind es heute die Moslems. Das Wahlprogramm der AfD hält noch mehr bereit: Etwa alleinerziehende Frauen oder eingewanderte Türken, von denen sich die Rechten bedroht und als deren potenzielle Opfer sie sich sehen.

Das Wir-Verhältnis der Linken basiert auf Heterogenität und Pluralität. Es handelt sich um ein diskursives Wir, man ist miteinander im Gespräch und erkennt den anderen als Verschiedenen an. Deshalb ist er auch kein Fremder, sondern eben ein anderer. Hannah Arendt fasst die Bildung dieses Wir im Begriff des gemeinsamen politischen Handelns verschiedener Menschen; nur darin kann Neues, wirkliche Veränderung, entstehen. Dieses Wir untersteht keinem äußeren Zweck, deshalb ist eine der höchsten Formen linker Sozialität die Freundschaft.

Wie kommt das Rechte in die Linke?

Bei diesen idealtypischen Unterscheidungen denken sicher viele ganz zu Recht: Schön wär's! Merkmale der Rechten finden sich doch auch bei den Linken, etwa Feindbilder, Opferhaltungen oder Heilserwartungen. Und damit stellt sich die Frage: Wie kommt das Rechte in die Linke? Oder: Warum werden Linke rechts, wie Horst Mahler, Bernd Rabehl oder der einstige Maoist Wolfgang Gedeon, der bei der AfD zu finden ist?

Die immer noch grundlegenden Untersuchungen dazu stammen vom Institut für Sozialforschung der Frankfurter Schule. Erich Fromm untersuchte in den 1920er-Jahren Arbeiter und Angestellte und zeigte, dass "häufig die Anhänger der Linksparteien eine seelische Haltung aufwiesen, die keineswegs der konstruierten idealtypischen entsprach, ja ihr gerade entgegengesetzt war". Als zweifellos wichtigstes Ergebnis sei der geringe Prozentsatz von Linken festzuhalten, "die mit der sozialistischen Linie sowohl im Denken als auch im Fühlen übereinstimmten" – gerade einmal 15 Prozent.

Auf den Arbeiten von Fromm bauen Adornos und Horkheimers Studien zum autoritären Charakter auf. Sie suchten nach Erklärungen dafür, warum Menschen antidemokratisch, ressentimentgeladen und potenziell faschistisch werden können. Der autoritäre Charakter, der sich insgeheim ohnmächtig und verlassen fühlt, ist prädestiniert für die freiwillige Unterordnung unter repressive politische Ideologien, egal ob sie von links oder von rechts vorgetragen werden. Ein Kennzeichen des Autoritarismus ist es, die eigenen Aggressionen nicht gegen Herrschaft zu wenden, sondern auf andere zu projizieren. Die eigenen, als abwegig erscheinenden Wünsche werden verdrängt und auf andere Personen übertragen, um diese Personen dann verurteilen zu können.

Die hier nur angedeuteten Charaktermerkmale finden sich auch bei Leuten, die sich links verstehen. Insbesondere hierarchisch organisierte K-Gruppen scheinen dafür prädestiniert, weil hier das Angebot besteht, avantgardistisch zu denen zu gehören, die wissen, was das Beste für alle anderen ist und, im Parteiauftrag handelnd, zu den zukünftigen Siegern der Geschichte zu zählen. Der rechte Linke kommt zu den Linken, weil er zu diesen Siegern gehören will. Wird er enttäuscht in den Heilserwartungen, die versprochen waren und an die er geglaubt hatte, sieht er sich als betrogenes Opfer und wendet sich – unfähig zu Selbstreflexion und -kritik – den neuen potenziellen Siegern zu. Die Biografien der Mahlers und Gedeons belegen das und zeigen, dass diese Leute dann "die Seiten" wechselten, wenn die sozialen Bewegungen schwächer wurden, an deren "Sieg" sie geglaubt hatten. So wie ein Fußballfan, der sich immer der Gewinnermannschaft zuwendet.

Warum tendieren soziale Bewegungen nach links oder rechts?

Wann soziale Bewegungen auftauchen und wie sie sich entwickeln, lässt sich nicht vorhersehen. Ihre Dynamik ist keineswegs rational. Was sich allerdings retrospektiv, empirisch belegen lässt, ist: Linke, emanzipatorisch orientierte soziale Bewegungen treten in Zeiten (realen oder gefühlten) ökonomischen Aufschwungs auf, rechte Bewegungen in Zeiten des Abschwungs.

So erkennt der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty den Grund für das Entstehen linker Bewegungen darin, dass die "Abnahme des Drucks auf das Leben eine Umstrukturierung des sozialen Raumes ermöglicht: Die Horizonte sind nicht mehr eingeengt auf die unmittelbaren Bedürfnisse, es entsteht ein Spielraum, Raum für einen neuen Lebensentwurf".

Die gegenteilige Entwicklung, nämlich die Folgen eines Schwindens jenes Raums für neue Lebensentwürfe, skizziert Nachtwey, wenn er die aktuellen Auswirkungen neoliberaler Politik beschreibt. Er benutzt den Begriff der "regressiven Modernisierung" und belegt, wie sich sowohl die materielle Situation in der Gesellschaft schleichend, aber kontinuierlich verschlechtert, als auch die Furcht vor dem Abstieg wächst. Spaltungen in der Gesellschaft, Exklusion und Prekarisierung nehmen zu.

In dieser Regression schwimmt die Linke heute gewissermaßen mit. Ihr sei, so Nachtwey, eine optimistische Perspektive abhanden gekommen, die Gewissheit, dass es besser werden könne. Die Linke blickte immer "erwartungsfroh und hoffnungsvoll nach vorn. Man war davon überzeugt, dass die Zukunft besser sein werde, für einen selbst und für die eigenen Kinder." Diese Hoffnung sei nun gebrochen, größtenteils aufgegeben, die Linke im Grunde zu einer konservativen "Nachhut" geworden.

Das erinnert an Nassehis Diagnose, wonach Linke heute "links reden und rechts handeln" würden. Nur ist dies kein historisch neues Phänomen oder gar ein neues Kennzeichen "der Linken". Es ist vielmehr eine Reaktion auf jene regressive Modernisierung und zeigt, wie sehr die Linke selbst in der neoliberalen Ideologie verfangen ist.

Das System ist immer noch nicht aus den Angeln gehoben

Die Erzählung der Linken über sich selbst ginge etwa so: Als "archimedischer Punkt", von dem aus sich das System aus den Angeln heben ließe, wurde die Arbeiterbewegung gesehen. Denn im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen links und rechts stehe der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital. Er habe in Gestalt der Arbeiterklasse seine höchste Zuspitzung und in der Übernahme einiger Staatsapparate durch sozialistische Parteien seine größte Überwindung erfahren. 

Die Studentenbewegung und die außerparlamentarische Opposition der 1960er- und 1970er-Jahre wiederum seien gewissermaßen als intellektueller Arm dieses Gegensatzes zu sehen. Studentische Betriebskampfgruppen und Flugblattverteiler mühten sich redlich, der Arbeiterklasse zu Bewusstsein zu verhelfen. Zwar tauchten Arbeiter und Bauern in Gestalt badischer Winzer, die sich gegen das AKW Wyhl zur Wehr setzten, noch einmal als Verbündete auf. Aber für einen großen Teil der Linken stellt sich mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten die Frage, was denn eine Linke überhaupt noch ausmacht. Diese Erzählung der Linken hat tatsächlich ihr Ende gefunden, viele der thematisierten Probleme aber sind geblieben.

Drängende Fragen, die sich heute stellen, sind: Wie können die Mechanismen der Individualisierung und Deprivation aufgedeckt werden, anstatt in identitäre Volksgemeinschaft und Opfermentalität umzuschlagen? Was lässt sich gegen die durch den Neoliberalismus erzeugte Verarmung und Verelendung tun, die mit einer gigantischen Konzentration von Reichtum einhergeht? Wie ist eine Gesellschaft der Angst zu transformieren in eine Gesellschaft, die sich politisch handelnd selbst gestaltet?

Aber nicht nur diese Themen liegen als Probleme auf dem Tisch. Ebenfalls vorhanden und wirkmächtig sind Erfahrungen von Freiheit. Sie finden sich seit etwa 2000 Jahren in Begriffen und Bezeichnungen gespeichert, die wir ganz selbstverständlich benutzen, während sie ihres emanzipatorischen Bedeutungsgehalts zunehmend beraubt sind und oft missbraucht werden: Wörter wie "das Politische", "Demokratie" oder "Zivilgesellschaft" erinnern an solche Lebensformen, während der die Menschen die Erfahrung gemacht haben, dass sie selbst es sein können, die ihr Zusammenleben regeln, und es keine Unterteilung in Herrscher und Beherrschte gibt.

Dies mag als utopisch zurückgewiesen werden. Doch zu einer aktuellen Gewissheit wird immer mehr, dass das Beharren auf einem Wachstumsmodell, welches seine eigenen Grundlagen permanent ausbeutet und untergräbt, illusorisch ist und obendrein autoritative, menschenfeindliche Aufbegehren rechter Bewegungen erzeugt.

"Die Linke" jedenfalls ist keine Menge, die man einmal herstellt, und schon gar keine Partei, in die man eintreten kann, und dann ist man links. Eine emanzipatorische Linke – genau genommen gibt es keine andere – zeigt sich vor allem als eine Lebensform, die von der Frage geleitet wird, wie die Welt als eine für alle Menschen gemeinsam zu bewohnende, als Gemeinwesen, gestaltet werden kann.

Annette Ohme-Reinicke, Jahrgang 1961, ist Dozentin am Institut für Philosophie der Uni Stuttgart. Ihr Schwerpunkt sind soziale Bewegungen. Sie gehört zu den GründerInnen des Stuttgarter Hannah-Arendt-Instituts.


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7 Kommentare verfügbar

  • Heinrich Triebstein
    am 09.09.2016
    Antworten
    Karikatur aus dem Frankreich der 1960er Jahre: Marx links, Jesus rechts. Beide mit Boxhandschuhen. In der Mitte zwischen ihnen der Hutträger: "Haut Euch!" Wenn zwei sich streiten, freut sich ein Dritter.
    Joseph Stiglitz benennt 2011 das Eine Prozent. Occupy, großmäulig: Also sind wir die 99…
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