Nach den Zählungen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) befinden sich derzeit über 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Den größten Teil – 38,2 Millionen – bilden die sogenannten Binnenvertriebenen, die innerhalb ihres eigenen Landes auf der Flucht sind. Sie sind die möglichen Flüchtlinge von morgen. Die zweite Gruppe sind die 21,3 Millionen Flüchtlinge, die ihr Herkunftsland bereits verlassen haben.
In Deutschland wurden dieses Jahr bis Juni 2015 fast 160 000 Asylanträge gestellt. Bis Ende des Jahres erwartet man bis zu 800 000 neue Anträge. In der gesamten Europäischen Union suchten 2014 ungefähr 660 000 Menschen Schutz. Für das Jahr 2015 liegen für die EU noch keine aktuellen Zahlen vor.
Die Flüchtlinge in Deutschland kommen hauptsächlich aus Syrien, dem Kosovo, Albanien, Serbien und dem Irak, und zwar in dieser Reihenfolge. Ein Großteil der in anderen Staaten der EU ankommenden Flüchtlinge wollen in die Bundesrepublik weiterreisen. Bereits jetzt stöhnen hier die Landkreise und Städte unter den Anstrengungen für die Versorgung und Unterbringung dieser Menschen. Immer öfter werden Messehallen und Turnhallen belegt. Dabei wird die politische Diskussion über Möglichkeiten zur Lösung der Flüchtlingskrise immer schriller. Kann die Einstufung weiterer Balkanstaaten als sichere Herkunftsstaaten die Lösung bringen? Oder nutzt eher ein Stopp der Waffenexporte? Wenn man die derzeit diskutierten Lösungsvorschläge auf den Prüfstand stellt, kommt man zu dem Ergebnis, dass sie zumindest für eine kurzfristige Lösung nicht taugen.
Fluchtursachen beseitigen?
Die Hauptfluchtursachen sind Krieg, Gewalt, Armut und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Könnten diese Ursachen beseitigt werden, würde niemand mehr aus seinem Land flüchten. Diese Erkenntnis, so banal sie ist, stößt jedoch bei ihrer Umsetzung schnell an ihre Grenzen. In Syrien, dem Irak, Afghanistan oder Somalia toben seit vielen Jahren grausame und unerbittliche Bürgerkriege. Die Welt musste in den letzten Jahren schmerzhaft erfahren, dass selbst der Einsatz der US-Armee, der stärksten Armee der Welt, eine Waffenruhe nicht erzwingen konnte. So führte in Afghanistan der Sturz des reaktionär-religiösen Taliban-Regimes durch NATO-Truppen nicht zu der erhofften Umwandlung des Landes in ein demokratisches Staatswesen. Im Gegenteil: Der Krieg dauert bis heute an, nur die ausländischen Truppen ziehen wieder ab.
Im Irak haben die US-Truppen durch Militäreinsatz einen Diktator vertrieben und ein verwüstetes Land hinterlassen. Heute sterben dort täglich mehr Menschen als zu Saddams Zeiten. Diese Erfahrung zeigt, dass die Hauptfluchtursache, der Krieg, durch militärischen Einsatz von außen kaum zu beseitigen ist. Die USA und Europa besitzen schon lange nicht mehr die militärische Kraft, die Welt nach ihren Vorstellungen zu verändern und einen Krieg mit kriegerischen Mitteln zu beenden.
Für die Kriegsführung benötigt man Waffen. Deshalb lautet eine der Hauptforderungen, insbesondere der Kirchen, Waffenexporte an Diktaturen weltweit zu stoppen. Laut dem Zwischenbericht der Bundesregierung zu genehmigten Waffenexporten wurden Genehmigungen in Länder außerhalb der NATO im ersten Halbjahr 2014 im Wert von 2,23 Milliarden Euro genehmigt. Unter den wichtigsten zehn Empfängerländern sind sechs sogenannte Drittländer: Israel (1. Platz), Singapur (3. Platz), Korea (4.), Brunei (5.), Algerien (8.) und Saudi-Arabien (9.). So ethisch bedenklich Waffenexport in Länder außerhalb der NATO ist, so wenig hätte ein Stopp des Waffenexports in eines der genannten Länder eine Beendigung der aktuellen Kriege zur Folge. Die Warlords in Syrien oder Somalia haben andere Quellen für ihre Waffen. Das heißt: Gleichgültig, ob man Waffenexporte stoppt oder sie als einen bedeutenden strategischen Beitrag der deutschen Außenpolitik zur Wahrung deutscher Interessen im Ausland auch zukünftig fortsetzt – wie gerade bei der Unterstützung der kurdischen Peschmergas gegen den IS –, die Kriege in den Hauptherkunftsländern der Flüchtlinge werden ungehindert weitergehen.
Armut beseitigen?
Neben den zahlreichen Kriegen gibt es weitere Fluchtursachen. Armut, Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit sind in vielen Ländern südlich der Sahara, aber auch auf dem Balkan eine der wesentlichen Fluchtursachen. Aus diesen Ländern kommen meist junge Männer nach Ende ihrer Schulzeit, die aus der Hoffnungslosigkeit ihrer Länder flüchten. Sie hoffen in Europa auf die Chance eines besseren Lebens. Aus Schwarzafrika flüchten sie in lebensgefährlichen Booten über das Mittelmeer oder über die Grenzzäune der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla. Obwohl schon Tausende von ihnen ertrunken sind, scheint sich kein Staatspräsident eines der afrikanischen Staaten für deren Schicksal zu interessieren. Die Flüchtlinge in Lampedusa wurden schon vom Papst und dem italienischen Staatspräsidenten begrüßt. Noch kein Staatspräsident eines Staates der Afrikanischen Union wurde bisher dort gesehen, wie Rupert Neudeck jüngst in der "Frankfurter Allgemeinen" bemerkte.
7 Kommentare verfügbar
Peter Schey
am 23.09.2015Nicht umsonst wird immer wieder nach 2000…