Die Nerven sind angespannt. Wie angespannt, darf ein Millionenpublikum am vergangenen Montagabend im "heute-journal" miterleben. Christian Sievers fragt Winfried Kretschmann nach dem Stuttgarter Flüchtlingsgipfel aus, zu den Plänen seines bayerischen Amtskollegen, Asylbewerber vom Westbalkan in Lagern unterzubringen. "Sie müssen mich doch nicht mit dem Herrn Seehofer quälen", wird der Ministerpräsident laut, "der macht, was er will, und ich mache, was ich will."
Gut gebrüllt, nur leider an der Realität vorbei. Denn der erste grüne Regierungschef macht seit seinem Amtsantritt 2011 oft, was andere wollen. Da sind erstens seine Berater im Staatsministerium, die er gern – manchmal mit so verzweifeltem Unterton – "meine Leut" nennt. Und da sind zweitens die Kabinettskollegen. Von Anfang an pflegte Kretschmann einen präsidialen Regierungsstil, mit viel Freiraum für alle Minister. In der Flüchtlingsfrage hätte er das Heft besser selbst in die Hand genommen – und zwar früher.
Zum Beispiel im September 2014, als er im Bundesrat den drei neuen sicheren Herkunftsstaaten – Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina – zustimmt. Damals schreibt er in einem Brief an die Mitglieder der Südwest-Grünen: "In den kommenden Monaten, eventuell auch Jahren, werden voraussichtlich noch deutlich mehr Menschen als derzeit zu uns kommen und unsere Hilfe benötigen." Große Herausforderungen würden das werden, an "uns alle, in den Kommunen, in den Kreisen und Ländern". Zehn Monate später erklärt die Landesregierung die bedrohlich zugespitzte Lage vor allem mit den falschen Prognosen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Dass dessen Zahlen zu niedrig angesetzt waren, ist unstrittig. BAMF-Präsident Manfred Schmidt, der ursprünglich seinen Stellvertreter nach Stuttgart schicken wollte, macht in der großen Runde hinter verschlossenen Türen wieder keine gute Figur. Er eiert herum, einige am Tisch rechnen seine "vagen Angaben" später auf 100 000 neue Asylbewerber im laufenden Jahr 2015 hoch. Die offizielle Zahl liegt bei der Hälfte. "Wir sind auf die Prognosen das BAMF angewiesen", beharrt Kretschmann, wiewohl er sich zu lange darauf verlassen hat, statt eigene Plausibilitätsrechnungen anzustellen oder auch nur auf internationale Flüchtlingsorganisationen zu hören.
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Schwabe
am 04.08.2015Hegemoniale neoliberale Wirtschaftsdiktatur aus und in Europa - insbesondere durch deutsche (bürgerliche) Politik! So eine radikal kapitalorientierte Politik bedeutet nichts anderes als ein menschenverachtender Wirtschaftskrieg (töten/verelenden ohne…