Ich war damals schon seit mehr als zehn Jahren freiberuflich als Journalist unterwegs. Oft im Auftrag, aber immer wieder hatte ich auch selbst Themen vorgeschlagen und mich auch an Musik, Kunst- und Architekturzeitschriften gewandt. Dass ein Lebensunterhalt davon kaum zu bestreiten ist, war klar. Aber ich hatte mich entschieden, zuerst danach zu gehen, was ich für richtig halte, und erst dann, wie ich damit über die Runden komme.
Es war noch in der Anfangszeit von Kontext, zu Beginn der ersten grün dominierten Landesregierung. Mein erster Vorschlag war das neue elektrische Carsharing-Angebot von Daimler mit dem Smart, E-Car2go. Die Grünen waren begeistert. Ich glaubte nicht daran, dass der Autokonzern aus Liebe zur Umwelt handelte, sondern eher um junge Kunden zurückzugewinnen, als Konkurrenz zum öffentlichen Verkehr und als Einstieg ins Selberfahren.
Heute stehen längst wieder die roten Stadtmobil-Fahrzeuge an den damals aufgestellten Ladesäulen. Smart ist nach China abgewandert, Daimler betreibt mit Ach und Krach, zusammen mit BMW, noch ein minimales Carsharing-Angebot, sonst würde die Konzernstrategie CASE jede Glaubwürdigkeit verlieren. Die vier Buchstaben stehen für Connected, das heißt der Wechsel zwischen den Verkehrsmitteln, Autonom – das ist Zukunftsmusik –, Shared und Electric.
Genauer hinsehen. Nach den eigentlichen Motivationen hinter den wohlklingenden Ankündigungen suchen. Und nicht zuletzt die Aufmerksamkeit auf Dinge lenken, die sonst unter dem Radar der medialen Öffentlichkeit hindurchgehen. Denn wie Noam Chomsky und Edward S. Herman in dem skandalöserweise bis heute nicht ins Deutsche übersetzten Klassiker "Manufacturing Consent" gezeigt haben, funktioniert die Lenkung der menschlichen Herde über Auswahl und Gewichtung der Nachrichten viel besser als durch direkte Propaganda.
Als Kulturjournalist ist mir das nicht neu. Es gibt einen Bereich der Gegenwartskunst, der nur ein kleines Publikum erreicht, aber dem, was die Massenmedien vermitteln, um Lichtjahre voraus ist. Brisante Arbeiten, die aber genau deshalb ungefährlich bleiben, weil sie nur einen kleinen Kreis von Eingeweihten erreichen.
Nicht nur deshalb hat mich besonders gefreut, als Kontext in einer Jahreskonferenz ankündigte, dem künstlerischen Bereich mehr Raum geben zu wollen. Denn auch auf lokaler und regionaler Ebene gibt es eine große Vielzahl unterschiedlicher Akteure – kleine Theater, unabhängige Kunsträume und Projekte –, die vom traditionellen Feuilleton, Rundfunk und Fernsehen noch nie richtig abgebildet wurden, schon gar nicht heute.
Hier und in Initiativen, die modellhaft neue Wege erproben – neue Wohnformen, Ökonomien des Teilens, Urban Gardening, Unverpackt-Läden, Repair Cafés –, sehe ich die einzige Hoffnung, dass die Menschheit noch einmal die Kurve kriegen könnte. Und in neuen Organisationsformen wie der Black Community Foundation, dem Mietshäuser Syndikat oder neuen Genossenschaften.
Denn die Weltrevolution – machen wir uns nichts vor – wird nicht kommen. Das Proletariat bangt um seine gut bezahlten Arbeitsplätze, näht weit weg in Bangladesch unsere Hennes-und-Mauritz-T-Shirts oder wird nach getaner Schuldigkeit nach Rumänien zurückgeschickt. Die Ökonomie im Blick zu behalten, bleibt essentiell. Denn sie ist nichts weiter als das quantifizierte Maß unserer menschlichen Beziehungen, Abhängigkeiten und Machtverhältnisse.
Dietrich Heißenbüttel war erstmals am 21. September 2011 in Kontext zu lesen mit einem Bericht über das Stück "30. September", mit dem das Schauspiel Stuttgart seine Spielzeit eröffnete.
Der Fortschritt ist eine Schnecke
Die Werbeeinblendung zuerst: Kontext könnte auch stehen für koninuierlich obenbleibende Neuigkeiten, treffend, ernsthaft und x-fach transportiert. Die thematische Bandbreite dieses digitalen Periodikums ist enorm, oft schweift der Blick über den Talkessel hinaus bis nach Chile und Neuseeland, zu Grönland-Haien und Galapagos-Schildkröten. Ausgabe für Ausgabe wird so demonstriert, dass und wie die Häutung vom heimatverbundenen Stuttgart-21-Widerstands-Magazin zur linken Online-Wochenzeitung in überzeugender und nachhaltiger Weise gelang.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!