KONTEXT:Wochenzeitung
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Unsere Freien

Die Kurve kriegen

Unsere Freien: Die Kurve kriegen
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Was wäre eine Redaktion ohne engagierte freie MitarbeiterInnen? Sie könnte einpacken. Auch Kontext. Unsere zwei AutorInnen gehören mit am längsten dazu. Sie schreiben, was sie antreibt, für Kontext in die Tasten zu greifen.

Genau hinsehen

Warum ich für Kontext schreibe? Die Frage ist schnell beantwortet: weil ich hier Themen loswerden kann, die mir sonst keiner abnimmt. Ein Müllschlucker für abwegige Ideen? Da würde diese selbstbewusste Redaktion nicht mitspielen. Aber es gab, als ich mich zum ersten Mal an Kontext gewandt habe, immer mehr, was mir wichtig erschien, aber niemand drucken wollte. Unter anderem zu Stuttgart 21. Aber nicht nur. Und ich stellte fest: Meine Themen passten zu Kontext.

Ich war damals schon seit mehr als zehn Jahren freiberuflich als Journalist unterwegs. Oft im Auftrag, aber immer wieder hatte ich auch selbst Themen vorgeschlagen und mich auch an Musik, Kunst- und Architekturzeitschriften gewandt. Dass ein Lebensunterhalt davon kaum zu bestreiten ist, war klar. Aber ich hatte mich entschieden, zuerst danach zu gehen, was ich für richtig halte, und erst dann, wie ich damit über die Runden komme.

Es war noch in der Anfangszeit von Kontext, zu Beginn der ersten grün dominierten Landesregierung. Mein erster Vorschlag war das neue elektrische Carsharing-Angebot von Daimler mit dem Smart, E-Car2go. Die Grünen waren begeistert. Ich glaubte nicht daran, dass der Autokonzern aus Liebe zur Umwelt handelte, sondern eher um junge Kunden zurückzugewinnen, als Konkurrenz zum öffentlichen Verkehr und als Einstieg ins Selberfahren.

Heute stehen längst wieder die roten Stadtmobil-Fahrzeuge an den damals aufgestellten Ladesäulen. Smart ist nach China abgewandert, Daimler betreibt mit Ach und Krach, zusammen mit BMW, noch ein minimales Carsharing-Angebot, sonst würde die Konzernstrategie CASE jede Glaubwürdigkeit verlieren. Die vier Buchstaben stehen für Connected, das heißt der Wechsel zwischen den Verkehrsmitteln, Autonom – das ist Zukunftsmusik –, Shared und Electric.

Genauer hinsehen. Nach den eigentlichen Motivationen hinter den wohlklingenden Ankündigungen suchen. Und nicht zuletzt die Aufmerksamkeit auf Dinge lenken, die sonst unter dem Radar der medialen Öffentlichkeit hindurchgehen. Denn wie Noam Chomsky und Edward S. Herman in dem skandalöserweise bis heute nicht ins Deutsche übersetzten Klassiker "Manufacturing Consent" gezeigt haben, funktioniert die Lenkung der menschlichen Herde über Auswahl und Gewichtung der Nachrichten viel besser als durch direkte Propaganda.

Als Kulturjournalist ist mir das nicht neu. Es gibt einen Bereich der Gegenwartskunst, der nur ein kleines Publikum erreicht, aber dem, was die Massenmedien vermitteln, um Lichtjahre voraus ist. Brisante Arbeiten, die aber genau deshalb ungefährlich bleiben, weil sie nur einen kleinen Kreis von Eingeweihten erreichen.

Nicht nur deshalb hat mich besonders gefreut, als Kontext in einer Jahreskonferenz ankündigte, dem künstlerischen Bereich mehr Raum geben zu wollen. Denn auch auf lokaler und regionaler Ebene gibt es eine große Vielzahl unterschiedlicher Akteure – kleine Theater, unabhängige Kunsträume und Projekte –, die vom traditionellen Feuilleton, Rundfunk und Fernsehen noch nie richtig abgebildet wurden, schon gar nicht heute.

Hier und in Initiativen, die modellhaft neue Wege erproben – neue Wohnformen, Ökonomien des Teilens, Urban Gardening, Unverpackt-Läden, Repair Cafés –, sehe ich die einzige Hoffnung, dass die Menschheit noch einmal die Kurve kriegen könnte. Und in neuen Organisationsformen wie der Black Community Foundation, dem Mietshäuser Syndikat oder neuen Genossenschaften.

Denn die Weltrevolution – machen wir uns nichts vor – wird nicht kommen. Das Proletariat bangt um seine gut bezahlten Arbeitsplätze, näht weit weg in Bangladesch unsere Hennes-und-Mauritz-T-Shirts oder wird nach getaner Schuldigkeit nach Rumänien zurückgeschickt. Die Ökonomie im Blick zu behalten, bleibt essentiell. Denn sie ist nichts weiter als das quantifizierte Maß unserer menschlichen Beziehungen, Abhängigkeiten und Machtverhältnisse.


Dietrich Heißenbüttel war erstmals am 21. September 2011 in Kontext zu lesen mit einem Bericht über das Stück "30. September", mit dem das Schauspiel Stuttgart seine Spielzeit eröffnete.
 

Der Fortschritt ist eine Schnecke

Die Werbeeinblendung zuerst: Kontext könnte auch stehen für koninuierlich obenbleibende Neuigkeiten, treffend, ernsthaft und x-fach transportiert. Die thematische Bandbreite dieses digitalen Periodikums ist enorm, oft schweift der Blick über den Talkessel hinaus bis nach Chile und Neuseeland, zu Grönland-Haien und Galapagos-Schildkröten. Ausgabe für Ausgabe wird so demonstriert, dass und wie die Häutung vom heimatverbundenen Stuttgart-21-Widerstands-Magazin zur linken Online-Wochenzeitung in überzeugender und nachhaltiger Weise gelang.

522-mal ist Kontext bisher erschienen, seit fast auf den Tag genau acht Jahren entfaltete sich als ein Schwerpunkt die Landespolitik. Schon der erste Text zeigte die tiefe Wahrheit der uralten Erkenntnis, wonach der Fortschritt eben doch auch eine Schnecke ist. "Baustelle Bildung" lautete die Diagnose in einer ersten grün-roten Zwischenbilanz, "der Reformdruck war riesig, viele Probleme bei der Umsetzung sind aber hausgemacht." Und mal mehr, mal weniger liebevoll fallen die Watschen für diejenigen unter den Sozialdemokraten aus, die sich überflüssigerweise als Fans des Tiefbahnhofs ins Zeug legen, darunter der "rote Quälgeist" (Claus Schmiedel) oder auch das "rote Vakuum" (Nils Schmid).

Vieles musste sich damals weiterhin um den Schwarzen Donnerstag drehen wie beispielsweise die beiden Untersuchungsausschüsse des Landtags, die sich intensiv und durchaus mit beachtlichen Erkenntnissen mit den Hintergründen befassten. Ein Text mit dem Titel "Die vergessene Wahrheit" ist eine traurige Erinnerung an Gangolf Stocker und seinem hochoffiziellen Dank auf einer Montagsdemo.

Wer das Privileg hat, für Kontext zu schreiben, kann viel erleben und mitverfolgen. Zeugenauftritte, nach denen einem der Schreck über die Rechtsradikalen mitten in der baden-württembergischen Gesellschaft in die Knochen fährt, die immer neuen Wendungen speziell der Befürworter von S21, die Veränderung der und des Grünen in mittlerweile zehn Regierungsjahren. Manchmal gibt es Fanpost, aus der näheren oder in der weiteren Welt. So einst in Jerusalems Altstadt im Schlepptau von Winfried Kretschmann, den die Stadtführerin erkennt. Sie habe in Berlin und Stuttgart gelebt, ruft sie begeistert durchs Vor-Corona-Gedränge und zieht eine Samstags-taz aus dem Rucksack.

Und intern? Wie ein roter Faden zieht sich das Engagement um die besondere Herangehensweise durch die vergangenen zehn Jahre, die ewige Neugierde als vielleicht wichtigste journalistische Tugend überhaupt, die Philanthropie, die Lust an der schnellen und zugleich seriösen Erfassung neuer Sachverhalte. Nicht immer, aber immer wieder war der Redaktionssitzungsraum erfüllt von Lachen und Lebensfreude. Er wird es nach der Pandemie wieder sein.

Die persönliche Bemerkung zuletzt: Herausragend für eine Österreicherin, die mit Stolz und Dankbarkeit auf ihre Schulzeit im roten Wien blickt, war die Mitarbeit am leider zu wenig beachteten Kontext-Buch über den Ersten Weltkrieg. "Der König weint" erzählt von erschütternden Ereignissen und Erkenntnissen, die im Geschichtsunterricht von damals keinen Platz hatten. Schon in den ersten Kriegstagen war 1914, wie ein Kapitel überschrieben ist, die "Fährte in die Apokalypse" gelegt worden – mit jener Lügenpropaganda, die heute Fake News heißt. Und die, wie beileibe nicht nur das Beispiel von Trumps Amerika zeigt, Menschen selbst in modernen demokratischen Gesellschaften um den Verstand bringen kann.


Johanna Henkel-Waidhofer beobachtet für Kontext das landespolitische Geschehen. Erstmals schrieb sie am 27. März 2013 über die Bildungsbaustellen der Landesregierung und warum Grün-Rot dabei nicht nur eine Ministerin, sondern auch Reputation verloren hat.

 

Unser Dank gilt allen freien Kontext-MitarbeiterInnen. Hier sind sie noch einmal aufgeführt:

Hermann G. Abmayr, Joe Bauer, Karin Burger, Mario Damolin, Björn Dermann, Peter Dietrich, Emran Feroz, Peter Grohmann, Verena Großkreutz, Dietrich Heißenbüttel, Johanna Henkel-Waidhofer, Martin Himmelheber, Ralf Hutter, Fabian Kienert, Filiz Koçali, Tomasz Konicz, Rupert Koppold, Rainer Lang, Jürgen Lessat, Michael Lünstroth, Anton Maegerle, Gerhard Manthey, Sandro Mattioli, Samuel Müller, Peter Nowak, Cornelius Oettle, Annette Ohme-Reinicke, Moritz Osswald, Johannes Pimpl, Christian Prechtl, Lena Reiner, Wilhelm Reschl, Fatma Sagir, Jörg Scheller, Fritz Schwab, Stefan Siller, Rüdiger Sinn, Kai Stoltmann, Martin Storz, Susanne Veil, Ulrich Viehöver, Sabine Weissinger, Ulrich Weitz, Elena Wolf, Winfried Wolf und Pit Wuhrer.


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