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30. September

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Mit einem Stück zum 30. September eröffnet das Schauspiel Stuttgart am Freitag seine neue Spielzeit. Das Chorprojekt fragt nach einem Widerstandsrecht gegen Beschlüsse der Volksvertreter und findet interessante Auskünfte bei Klassikern der Literatur und Staatsphilosophie.

"Man kann demokratisch legitimierte Beschlüsse nicht einfach ad acta legen" – Originalton Stefan Mappus, Anfang Oktober 2010.

"Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden / wenn unerträglich wird die Last – greift er / hinauf getrosten Mutes in den Himmel / und holt herunter seine ew'gen Rechte / die droben hangen, unveräußerlich / und unzerbrechlich wie die Sterne selbst" – das wiederum, man hört es am Pathos, ist Friedrich Schiller.

Die Produktion "30. September", die am Freitag die Spielzeit des Stuttgarter Staatstheaters eröffnet, montiert beide Texte und viele andere, von Thomas Hobbes, John Locke, Heinrich von Kleist, Henry David Thoreau, aber auch Zitate von Dietrich Wagner, dem durch den Wasserwerfereinsatz geblendeten Rentner, sowie von Bahnchef Rüdiger Grube.

"Uns war klar, dass wir etwas zu diesem Thema machen wollen", sagt Jörg Bochow, seit 2005 Chefdramaturg des Hauses, "aber mit den Mitteln des Theaters. Die Ereignisse sind ja bekannt, die Bilder hat jeder gesehen. Sie sind auch mit sehr vielen Emotionen aufgeladen. Aber nach einem Jahr hat man vielleicht etwas Distanz gewonnen und kann grundsätzlicher reflektieren." Bochows Äußerung versteht sich auch vor dem Hintergrund, dass das Schauspiel mit "Faust 21" und "Metropolis" bereits zwei Produktionen zum Bahnhofsstreit vorgelegt hat, beide unter der Regie von Volker Lösch, der mit seinen Bürgerchören auch auf den Montagsdemonstrationen auftritt. Bochow und sein Team suchten in diesem Fall nach einem anderen Regisseur, einem weniger direkten Zugang. Denn es macht im Moment nicht viel Sinn, Anklage zu erheben, meint Bochow, das sei längst geschehen. Jedoch: "Vieles von dem, worum es an diesem Tag ging, berührt ja sehr allgemeine Fragen. Die auch nicht so leicht zu beantworten sind."

Mit Ulrich Rasche hat das Stuttgarter Schauspiel bereits vor fünf Jahren zusammengearbeitet. Damals inszenierte er "Kirchenlieder", es ging unter anderem um protestantische Arbeitsethik. Auch Rasche arbeitet mit Chören, Chorstücke sind sozusagen sein Markenzeichen. Aber er bevorzugt professionelle Sänger und Schauspieler. Auf einem Schachbrett, auf dem Schwarz und Weiß ständig wechseln, marschieren sie auf das Publikum zu, Figuren in einem Spiel, und skandieren Texte. An die Stelle der Handlung tritt eine streng musikalische Dramaturgie, aufgebaut auf einem rhythmischen Gerüst, das der Musiker Sir Henry bereitstellt. Es entsteht ein polyfones Geflecht aus gesprochenen und gesungenen Texten. Einsätze und Bewegungen einzustudieren hat einen Großteil der Probenarbeit in Anspruch genommen, die bereits im Juli begann.

Wie viel Abstand zu den letztjährigen Ereignissen tatsächlich errungen ist, wird sich noch weisen, angesichts des angekündigten Abrisses des Südflügels und öffentlicher Überlegungen zur Strategie der Polizei. Ob staatsphilosophische Erörterungen hier die richtigen Antworten bereitstellen, bleibt fraglich. Aber es gibt in dem Stück noch eine zweite Ebene, die der Protestsongs von John Lennon bis Escapado, von Hazy Osterwald bis Killing Joke. Wo Theorie und Praxis der Demokratie auseinanderdriften, liefern sie die nötige Erdung. In der Frage, inwieweit es dem Bürger geziemt, sich gegen die Beschlüsse seiner Vertreter zur Wehr zu setzen, finden sich aber auch bei den Klassikern einige interessante Auskünfte.


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