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Die blaue Brille

Die blaue Brille
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Die StZN liegen seit drei Wochen auf dem Tisch, und ihre Chefs sind begeistert. Christoph Reisinger von der StN geht den Neuen Stuttgarter Weg in der Gewissheit, dass die Kundschaft ihn so will. Die Brille der Leser sei auch seine, sagt er, und die Leser seien nicht blöd. Ein Streitgespräch.

Herr Reisinger, Sie laden Ihre Truppe zum fröhlichen Umtrunk in den neuen Newsroom ein, den Sie "Maschinenraum" nennen. Es steht zu befürchten, dass Sie das ernst meinen.

Völlig richtig. Im Maschinenraum sitzt ein wesentlicher Teil des Getriebes, das dafür sorgt, dass ein Rad ins andere greift. Die Arbeit muss um sechs in der Früh anfangen und bis 24 Uhr geleistet werden. Das läuft natürlich auf ein Schichtsystem hinaus, aber es ist kein Fließband, kein hämmernder Rhythmus.

Wir haben einmal gelernt, dass Kreativität in Redaktionsstuben entsteht, bei frei flottierenden Gedanken.

Der gesponserte Denkerclub ist leider nicht die zukunftsfähige Daseinsform von Redaktionen. Ich fände die auch schöner, aber ich habe den Sponsor nicht. In diesem Newsroom sitzen Journalisten mehr denn je zusammen und entwickeln Ideen. Das sind keine Schrauber, die ihrer Arbeit entfremdet sind. Hier wird entschieden, was für welche Leserschaft angeboten wird. In der gedruckten Zeitung und im Netz. Das gilt es richtig abzumischen. Das ist eine zutiefst journalistische Aufgabe. Wenn Sie Print und Digital zusammenbringen wollen, führt kein Weg an einem solchen Großraum vorbei.

Der richtige Inhalt zur richtigen Zeit auf dem richtigen Kanal. Diesem Ziel seien sie, so schreiben Sie in Ihrer Einladung zum Umtrunk, ein "gutes Stück" nähergekommen.

Sie mögen das belächeln. Aber wir sind inzwischen in der Lage, den User morgens in der Straßenbahn oder abends auf dem Sofa mit aktuellem Stoff zu beliefern.

Vielen Kolleginnen und Kollegen bereitet allein der Gedanke an diesen Arbeitsplatz schlaflose Nächte. 35 haben es vorgezogen, zu gehen.

Wir haben extrem viel Mühe darauf verwandt, dass Aufgabe und Person zueinanderpassen. Aber bei mehr als 200 Mitarbeitern werden sie immer den einen oder die andere haben, bei dem Sie Aufgabengebiet, Selbsteinschätzung und Qualifikation nicht in totale Übereinstimmung kriegen.

Wenn der Opernkritiker ins Vermischte muss, ist das so ein Fall.

Mir ist die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter nicht gleichgültig. Ich kann die Ängste, die Verunsicherung, auch den Frust, verstehen. Aber wenn Sie solche Umwälzungen haben, können Sie nicht alle 100-prozentig zufrieden stellen.

Sie selbst sind 100-prozentig zufrieden?

Ja, weil ich nur zwei Möglichkeiten habe. Ich kann mich der Tatsache verschließen, dass sich ein Teil der Leserschaft ins Digitale verschiebt, und alles lassen, wie es war. Dann kann ich die Uhr danach stellen, wann die Veranstaltung hier zu Ende ist. Ich kann diese Herausforderung aber auch annehmen, und dann muss ich meine Redaktion so zusammensetzen, dass sie auch diese Leser erreicht und dauerhaft an uns bindet. Ich wüsste nicht, wie ich den Fortbestand der StN anders sichern könnte.

Sie hätten eine Zeitung machen können. Und die richtig gut.

Da sage ich mit fester Stimme: Wir haben zwei sehr gute gedruckte Zeitungen. Schauen Sie sich die Blätter in anderen Ballungsräumen an. Dahinter muss sich keine StN und keine StZ verstecken. Ich weiß, dass wir als Zeitung nur mit Qualität überleben. In dem Ozean der Gratismedien werden wir untergehen, wenn wir uns nicht abheben. Eine Zeitung dichtmachen wäre die schlechteste aller Möglichkeiten gewesen, weil wir sauber voneinander getrennte Leserschaften haben.

Die jetzt mit demselben Inhalt beliefert werden.

Eine erstaunliche Wahrnehmung. Wenn ich mir die letzten drei Wochen anschaue, haben wir uns stärker unterschieden als in den vergangenen fünf Jahren.

Eine erstaunliche Einschätzung. Wir finden dieselben Texte in beiden Zeitungen, nur anders aufgemacht. Neu ist tatsächlich, dass StZ-Autoren bisweilen das halbe Blatt bei Ihnen zuschreiben. Das ist verwirrend.

Vielleicht für Sie. Die Normalleser sind ganz anders unterwegs. Wir haben gerade mal 50 Doppelleser im Abonnement. Unsere Leser finden die StN doch jetzt nicht schlecht, weil gute StZ-Autoren auftauchen. Sie freuen sich, wenn Paul Kreiner einen Klasseartikel über die Papstenzyklika liefert. Das ist oberer Rand, das schmückt uns. Kein Leser wird sagen, ich bestelle die StN ab, weil ein guter Text von einem StZ-Autor in seinem Blatt steht. Für die StZ gilt umgekehrt dasselbe.

Sie argumentieren ständig von den angenommenen Bedürfnissen der Leser her.

Dafür bin ich doch da. Wir machen hier keinen Selbsterfahrungstrip.

Nein, wir reden vom Prinzip der Presse- und Meinungsvielfalt. Dafür reichen Wolfgang Molitor und Joe Bauer nicht.

Mein Credo lautet: Die Brille ist nur richtig aufgesetzt, wenn's die Brille der Leser ist. Der Kollege Dorfs von der StZ hat hier dieselbe Sichtweise. Wir haben jahrzehntelang eine Sonntagszeitung gemeinsam gehabt, und keiner hat deswegen abbestellt. Und wenn Fritz Kuhn den Fassbieranstich auf dem Wasen macht, muss ich das nicht in einer StN- oder StZ-Lesart berichten. Bei der Kommentierung einer grün-schwarzen Regierung werden wir uns dagegen strikt unterscheiden. Wir müssen die Kräfte bündeln und dafür sorgen, dass wir die Luft haben, um ein anständiges Angebot auch für die Leser im Digitalen zu haben. Zum Verleger zu gehen und 50 Journalisten mehr zu fordern ist nicht sehr erfolgversprechend.

Wann kommt die nächste Sparwelle?

Mein Eindruck ist, dass die Sparwellen hier nicht aus Jux und Dollerei ausgelöst wurden. Sie hatten klar erkennbare wirtschaftliche Hintergründe. Jetzt ist es wichtig, für jeden Mitarbeiter eine gewisse Sicherheit zu bieten.

Früher haben 240 Kolleginnen und Kollegen zwei Zeitungen gemacht. Jetzt arbeiten sie im Grunde für ein Produkt. Die Hälfte zu viel, würde der Unternehmensberater sagen.

Nochmals: Wir machen zwei unterschiedliche Zeitungen, und dafür brauchen wir die 200 dringend. Zu unserem extrem anspruchsvollen Programm gehören außerdem zwei Websites, diverse Apps und weitere digitale Angebote. Sie alle wollen mit sauber recherchierten Geschichten gefüllt sein.

Und die gedruckte Zeitung wird zum Altpapier, das schnell entsorgt wird.

Auf keinen Fall. Wir dürfen im Gedruckten keine Abstriche machen. Sie werden von mir nie den Satz hören: Das Bedrucken toter Bäume ist out. Wir werden auch noch in 30 Jahren Zeitungen verkaufen. Aber die Wünsche des Publikums werden immer differenzierter, und darauf gilt es zu reagieren.

Finden Sie das alles gut?

Das ist nicht die Frage. Ich könnte auch sagen: Ich verlasse unter Protest die Branche. Das haben viele gemacht, ist aber nicht mein Weg. Umstände ändern sich, Zeiten ändern sich, und ich versuche das Beste draus zu machen.

Keine Restzweifel im Hinterkopf?

Wenn ich nicht ständig voller Restzweifel wäre, wäre ich naiv. Ich mag ja vieles sein, aber das nicht. Keiner hat das fertige Geschäftsmodell, wie wir den Leser digital an uns binden können, wie das früher beim Papier der Fall war. Ich sitze aber nicht da, verschränke die Arme und sage: Die Leser sind blöd und undankbar. Wenn's irgendwann eine Rückschau auf die Amtszeit Reisinger gibt, sollte dort stehen: Er hat sich wirklich angestrengt.

Dumm nur, dass das Geld immer noch mit dem Gedruckten verdient wird und das Digitale Miese macht.

Es ist doch wunderbar, dass wir zwei wirtschaftlich kerngesunde Zeitungen haben und uns in dieser Position auf die Veränderungen einstellen können. Auch im Digitalen wird inzwischen Geld verdient, wenn auch zu wenig. Ob es am Ende reicht, weiß kein Mensch. Aber als Allgäuer antworte ich mit einer alten Bauernweisheit: Man muss in die Kuh erst mal viel Gras reinstecken, bevor unten Milch rauskommt.

Für "Sonntag Aktuell" hat's offenbar nicht mehr gereicht. Das Blatt ist weg. Erste Zahlen aus dem Pressehaus sagen, es hätten nur 20 abbestellt. Erstaunlich wenig, wenn's stimmt.

Es sind mehr, aber deutlich weniger als ich befürchtet habe. Der Schmerz vieler Leser über den Verlust war groß. Auf der anderen Seite haben wir weit über 2000 positive Reaktionen auf unser neues Wochenendangebot bekommen. So sehr ich "Sonntag Aktuell" auch nachtrauere, ist das ein Anhaltspunkt für mich, dass die Leser unser neues Angebot honorieren und merken, dass es keine Mogelpackung ist. Es genießt bereits eine sehr hohe Wertschätzung und wird helfen, über den Abschiedsschmerz hinwegzukommen.

Dank der Texte, die Sie von der "Süddeutschen Zeitung" übernehmen?

Dank einer hoch kreativen StN/StZ-Truppe. Dank einer Geschäftsführung, die bereit war, so groß einzusteigen, und dank der "Süddeutschen", die auch künftig in der Regel die Aufmacher liefern wird. Unterm Strich bleiben auf 38 Seiten drei bis vier Geschichten aus München.

Eine kleine Kompensation für die großen Löcher, die der Kauf der SZ in die Stuttgarter Kassen gerissen hat.

Den Kauf haben nicht die Redaktionen eingefädelt. Im Übrigen hat es für mich eine Logik, wenn ein Unternehmen wie die Südwestdeutsche Medienholding ganz bewusst auf Qualität setzt und die "Süddeutsche" kauft. Generell gilt aber der alte Spruch: Wenn man vom Rathaus kommt, ist man klüger.

 

Christoph Reisinger, Jahrgang 1961, hat 2010 als Chefredakteur der "Stuttgarter Nachrichten" angefangen, "Sonntag Aktuell" verantwortet und leitet seit April 2016, zusammen mit Joachim Dorfs (StZ), die gemeinsame Redaktion. Der promovierte Historiker hat als freier Autor für "Bild" und den Deutschlandfunk und zuletzt als Leiter der Nachrichtenredaktion der "Neuen Osnabrücker Zeitung" gearbeitet. Reisinger stammt aus Leutkirch im Allgäu. Er ist Oberstleutnant der Reserve, entsprechend spezialisiert auf Außen- und Sicherheitspolitik.


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15 Kommentare verfügbar

  • Demokrator
    am 03.05.2016
    Antworten
    Das Netz vergisst in der Tat nichts!

    "Klartext", "Paul Peter" und "Degerlocher" beispielsweise sind ganz gewiss noch nicht vergessen.

    Da passt einer, der sich hier schon seit Wochen wichtig macht und dann auch noch wortgenau die Märchen der S21-Trolle nachbetet, wie die Faust auf's Auge.
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