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Ausstellung "Abriss 2.0"

Liebloser Umgang

Ausstellung "Abriss 2.0": Liebloser Umgang
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Eine Ausstellung in der Architekturgalerie am Weißenhof zeigt, wie Stuttgart mit seinem Baubestand umgeht. Kurz gesagt: Was nicht genug Rendite abwirft, kann weg. Dagegen protestieren die Architects for Future und Architekt:innenverbände.

Neun Jahre ist es her, dass so viele Menschen wie nie die Architekturgalerie am Weißenhof besuchten. Die Ausstellung "Stuttgart reißt sich ab" war ein wahrer Publikumsmagnet und traf den Nerv der Zeit. Das Thema Abriss und Neubau polarisiert, nicht erst seit 2016. Eine große Karte zeigte eine Vielzahl abgerissener Gebäude und stellte diesen weitere gefährdete und einige gerettete gegenüber.

Abriss sei unvermeidlich, heißt es oft. Die Häuser seien marode. Ein Argument, das einer Prüfung nicht immer standhält. Der Erhalt sei teurer als Abriss und Neubau, rechnen dann die Eigentümer vor. Oder der Altbau entspreche nicht mehr den heutigen Standards. Den wahren, simplen Grund nennt die SWR-Journalistin Leonie Berger im Gespräch mit dem Architekturfotografen Wilfried Dechau: "Hängt wie immer am Geld." Ökologische oder soziale Aspekte müssen sich unterordnen.

Dechau hat 2016 an der Ausstellung am Weißenhof mitgewirkt. Auslöser für ihn, sich mit dem Thema zu beschäftigen, war der Abriss des Innenministeriums am Karlsplatz 2014: ein unspektakulärer, aber, wie die Architekten sagen, qualitätsvoller Bau, der dem Dorotheenquartier weichen musste. Dechau, früher Chefredakteur der Deutschen Bauzeitung (db), fotografierte den Abriss und lichtete weitere Gebäude ab, die inzwischen von der Bildfläche verschwunden sind. Diese Aufnahmen waren in der ersten Ausstellung zu sehen.

Nun folgt eine zweite, "Abriss 2.0", eine Hommage auch an Claudia Betke, die vor zwei Jahren verstorbene Kuratorin der ersten. "Bereits bei den Vorbereitungen", schreibt Dechau im Katalog bezogen auf 2016, "war uns klar, dass es unbedingt einen zweiten Teil geben müsse, in dem all das gezeigt werden sollte, was anstelle der Abrisse gebaut worden ist." Elf abgerissene Bauten hat er ausgesucht und nun vom gleichen Standpunkt aus mit derselben Brennweite die Gebäude fotografiert, die an ihre Stelle getreten sind.

Geschichten hinter dem Abriss

Dechau beschränkt sich darauf, die Aufnahmen der Gebäude vor und beim Abriss den Fotos der Neubauten gegenüberzustellen. Er enthält sich des Kommentars: Die Besucher:innen der Ausstellung sollen selbst urteilen. Allerdings bleibt die Geschichte, die hinter den Abrissen steht, so im Verborgenen. Kontext kann hier in einigen Fällen nachhelfen.

Um eine Häuserzeile in der Klingenstraße im Stuttgarter Osten gab es 2014 Streit. Der Eigentümer, der Bau- und Wohnungsverein (BWV), hervorgegangen aus dem Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen, wollte abreißen. Die Mieterinitiativen monierten, hier werde kostengünstiger Wohnraum vernichtet. Unter fünf Euro Kaltmiete pro Quadratmeter: Das gibt es heute in Stuttgart nicht mehr. Die Mietpreise der Neubauten, hieß es damals, sollten bei 10,50 Euro liegen. Die Kritik verhallte, Ende 2015 begann der Abriss.

Nach einem gescheiterten Anlauf, zusammen mit der Diakonie ein Wohnheim für junge Auszubildende zu errichten, wurde dann ein Wohnhaus mit 31 – statt vorher 20 – Mietwohnungen und einem Bürgertreff gebaut. "Für den Bau- und Wohnungsverein Stuttgart bleibt es die Hauptaufgabe, guten, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen", schreibt der Verein in seiner Imagebroschüre. Auf die Frage, was die Wohnungen heute kosten, antwortet der BWV: "Es handelt sich um keine öffentlich geförderten Wohnungen. Wir liegen hier unter dem Mietspiegel." Bei einer 70- bis 90-Quadratmeter-Neubauwohnung in der Klingenstraße liegt die durchschnittliche Miete laut Mietspiegel bei 10,38 Euro plus Zuschläge je nach Ausstattung.

In bester Lage, unterhalb der Villa Reitzenstein, dem Sitz des Ministerpräsidenten, und oberhalb der Sünderstaffel, die direkt ins Stadtzentrum führt, befand sich früher der Sitz des Diakonischen Werks mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst, Brot für die Welt und der Katastrophenhilfe. Dann zog die Diakonie nach Berlin und verkaufte das Areal an eine Projektgesellschaft, die es an das Heidelberger Immobilienunternehmen Epple weiterreichte.

"Bienvenue à Stafflenberg Gänsheide", heißt es nun auf dessen Website zu den fünf "Stadtvillen" und dem "imposanten Einfamilienhaus mit rund 340 m² Wohnfläche", die an der Stelle der Diakonie entstanden sind. Um das Stuttgarter Innenentwicklungsmodell, das bei jedem Bauvorhaben einen Anteil an geförderten Wohnungen vorschreibt, zu umgehen, wurde ein wenig getrickst. Sozial- und Mietwohnungen sind nun nicht darunter, ausschließlich Eigentumswohnungen. Epple verspricht: "anspruchsvolles Wohnen mit einem atemberaubenden Blick auf den Stuttgarter Schlossplatz".

Auch Kommunen reißen ab

Sozialer klingen demgegenüber die Versprechen kommunaler Wohngesellschaften, wenn sie abreißen und neu bauen. "Seit unserem Bestehen versorgen wir breite Schichten der Bevölkerung mit Wohnraum", behauptet das kommunale Unternehmen Bietigheimer Wohnbau (BW), bekannt durch das 18-stöckige Hochhaus "Sky" beim Bietigheimer Bahnhof, eine Art Erkennungszeichen der Stadt. Das Versprechen löst BW mit den "Haussmann Homes" in der Stuttgarter Haußmannstraße allerdings nicht ein. Sie bestehen ausschließlich aus 37 Eigentumswohnungen.

Früher befand sich hier die Landeszentrale des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV). Die ist in die Schwabengalerie im südwestlichen Stadtteil Vaihingen umgezogen. Der Neubau bleibt ungefähr in den Dimensionen des Vorgängers – wie es der Bebauungsplan vorschreibt. BW übersetzt das in ihre Selbstbeschreibungslyrik so: "sensibel in Größe und Design an die Umgebung angepasst". Weiter heißt es: "Die markante Glasfassade prägt das Gebäude und bietet in den oberen Etagen einen atemberaubenden Blick über Stuttgart." Ein Immobilienportal meldet: "Dieses Bauvorhaben ist abverkauft."

Die Neubauten der Stuttgarter Wohnungsgesellschaft SWSG am Stöckach sind noch eingerüstet, im Frühjahr 2026 sollen sie fertig werden. Erkennbar ist, dass ihr Volumen das der dort einmal ansässigen Schule weit übersteigt. Die Stadt hat das Areal an ihre eigene Wohnungsgesellschaft verkauft. Von den 28 dort entstehenden Wohnungen sollen immerhin sieben Sozialwohnungen sein. Das entspricht den Vorgaben des Stuttgarter Innenentwicklungsmodells (SIM), demzufolge seit 2024 der Anteil sogar 30 Prozent betragen soll. Eine Kita und weitere Angebote machen den Bau zu einem neuen Stadtteilzentrum, das sich bei Baukosten von 30 Millionen Euro längerfristig wohl vor allem über den Supermarkt im Erdgeschoss finanziert.

Historisches musste dem Auto weichen

Abriss und der Protest dagegen sind indes kein neues Phänomen. Schon 1870 bedauert der Ingenieur August Köstlin den Abbruch des wohl bedeutendsten Bauwerks der Stadt, des Neuen Lusthauses, 25 Jahre zuvor: "So sind sie denn abgetragen worden, die Freitreppen und Arkaden, der herrliche Giebel und all der Bilderschmuck unter den Stoß-Seufzern der kunstliebenden Bevölkerung." Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die Landeshauptstadt dann ihr ältestes Gebäude, das sogenannte alte Steinhaus. Unter Protest wurde es 1953 abgetragen – für einen Autoparkplatz. Auch das Kronprinzenpalais und das Kaufhaus Schocken mussten großzügigen Straßenplanungen weichen, die dann doch nicht realisiert wurden.

"Ich kenne keine Stadt, die so lieblos mit ihrem Erbe umgeht wie Stuttgart", bekennt Andreas Hofer, Intendant der Bauausstellung IBA'27, bei einer Veranstaltung der Architects for Future Anfang August vor der ehemaligen Galeria Kaufhof an der Eberhardstraße, dem Gebäude, das seit Anfang der 1960er-Jahre das Kaufhaus Schocken ersetzt. Der Bau soll nun erhalten bleiben. Die Stadt hat von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch gemacht. Der Gemeinderat hat beschlossen, dort ein Haus der Kulturen, Wohnungen für städtische Angestellte, ein Gründerzentrum, Büroräume für die Verwaltung und Gastronomie unterzubringen.

Hofer möchte wenigstens eine Etage für eine zentrale Ausstellung im IBA-Jahr 2027 nutzen. Gerne hätte er das Gebäude schrittweise renoviert und in Besitz genommen, um jahrelange Verzögerungen durch den Umbau zu vermeiden. Doch der Vorbesitzer, die Signa Holding des Immobilienmoguls René Benko, hat den Bau heruntergewirtschaftet. Ohne umfangreiche Arbeiten an der Haustechnik geht nichts.

Benko sitzt derweil hinter Gittern, ihm wird unter anderem Betrug, Geldwäsche und Korruption vorgeworfen. Ein Gericht in Wien hat eine vorzeitige Entlassung aus der Untersuchungshaft abgelehnt. Andere Benko-Immobilien in Stuttgart mussten weichen: Der Kaufhof in Bad Cannstatt ist abgerissen, in der Königstraße im Stadtzentrum klafft anstelle der früheren Sportarena eine Lücke. In einem der Schaufenster der Galeria Kaufhof an der Eberhardstraße steht ein Elefant. Für den Bund deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) sind leerstehende Kaufhäuser "Der Elefant in der Stadt" – so nannte der BDA eine Veranstaltung im Heidelberger Kaufhof im vergangenen November.

"Der Elefant im Raum ist das Bauwesen", meint dagegen Frederick Kubin von den Architects for Future, die das hölzerne Tier in München gebaut und jetzt in Stuttgart im Schaufenster aufgestellt haben. Beim Bauen entstehen die meisten CO2-Emissionen, die meisten Ressourcen werden verbraucht, und beim Abriss entsteht mehr als die Hälfte aller Abfälle. Die Architects for Future rufen dazu auf, die europäische Bürgerinitiative "House Europe!" zu unterzeichnen. Sie fordert, Anreize zur Renovierung zu schaffen, damit Abriss und Neubau in Zukunft nicht mehr die Regel sind. 34.000 Unterschriften sind schon gesammelt, bis Ende Januar müssen es eine Million werden. Bleibt also noch einiges zu tun.

Denn Abriss, so Kubin, ist immer renditegetrieben. Es muss sich auch finanziell lohnen, die Bausubstanz zu erhalten. Man sieht es auf allen Seiten: Gleich neben dem Kaufhof gingen bis vor drei Jahren in der "Fritty Bar" Fritten über die Theke: ein Bau von Paul Stohrer, dem Architekten des Stuttgarter Rathauses. Jetzt klafft dort eine Lücke: abgerissen, verspekuliert. Und am anderen Ende der Eberhardstraße steht dem erst 40 Jahre alten Schwabenzentrum der Abriss bevor.

Es gibt also mehr Gründe, die gegen Abriss sprechen, als Denkmalschutz oder der Erhalt guter Architektur und des Stadtbildes. Ein "Weiter so" ist ökologisch schlichtweg nicht zu leisten. "Es geht auch anders", stellt Dechau fest und verweist in der Ausstellung auf die Erneuerung des Klett-Areals im Stuttgarter Westen – auf dem der größte Teil des Baubestands erhalten bleibt – und auf eine Bauteil-Börse in Basel, wo gereinigte und geprüfte Bauteile aus abgerissenen Gebäuden zur Wiederverwertung angeboten werden.

"Welches Stuttgart wollen wir leben?", fragt die Stadt in den unteren Schaufenstern der Galeria Kaufhof und hat eine Veranstaltungsreihe dazu auf die Beine gestellt. Eine hat bereits stattgefunden, zwei weitere sind am 21. Oktober und am 20. Februar geplant.


Die Ausstellung in der Architekturgalerie am Weißenhof läuft bis 5. Oktober und ist dienstags bis freitags von 14 bis 18 Uhr, samstags und sonntags von 12 bis 18 Uhr geöffnet. Der Katalog zur Ausstellung kostet 25 Euro.

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