Ein Nerd aus der Videothek
Die Geschichte von Mondo Sangue beginnt in einer Videothek. Christian Bluthardt stand in Stuttgart hinter der Theke der "Filmgalerie 451", studierte damals noch Medienpädagogik, und Yvy Pop, bürgerlich Yvy Heussler, arbeitete als freie Grafikerin. Irgendwann unterhielten sich beide – über Kannibalenfilme, ein Subgenre der italienischen Horror-Movies der 1970er-Jahre. "Er kannte alles", erzählt Yvy Pop. "Jeden Film, jeden Soundtrack, jede Anekdote." Und Christian Bluthardt offenbarte ihr gegenüber, zu komponieren, an Soundtracks zu arbeiten – "Ich war beeindruckt."
Viel mehr noch war Yvy Pop das, als sie einige Zeit später für die Stuttgarter Merz-Akademie die Präsentation eines Filmes bearbeitete und die Musik fehlte. Sie fragte bei mehreren Komponisten an, alle winkten ab. Dann fiel ihr Christian ein, der Nerd aus der Filmgalerie. "Ich rief ihn an und sagte: Kannst du in 24 Stunden einen Soundtrack komponieren, aufnehmen, produzieren und mir schicken? Und er sagte: ja. Okay."
Das war 2013. Drei Jahre später feierten Mondo Sangue den Release ihres ersten Albums bei "Tante H", einem Friseursalon im Stuttgarter Osten. Im Ambiente zwischen den Mustertapeten und Retro-Möbeln wurden Servierplatten umhergereicht, auf denen "Fingerfood" in blutroter Tomatensoße lag, während Yvy Pops Stimme sanft aus der rauschhaft schönen Musik auftauchte, die Christian Bluthardt geschaffen hatte: Orchestersampler, Instrumente, Wohlklang pur.
Musik mit Plot
Die Bilder, die zu dieser Musik gehören, sind grausam. Der Kannibalenfilm der 1970er-Jahre brachte einige Dutzend Werke hervor, die auch in deutschen Bahnhofskinos liefen, ehe sie beschlagnahmt oder indiziert wurden. Regisseure wie Umberto Lenzi, Ruggero Deodato, Joe D'Amato oder Jess Franco ließen Vertreter westlicher Zivilisationen durch Dschungelgebiete irren, in denen sie schließlich von Vertretern einer gänzlich andersartigen Wertegemeinschaft gefangen, gehäutet und gekocht wurden, all dies zur Freude einer Filmkamera, die ganz unverschämt dabei zusah.
Für "L'Isola dei Dannati", ihr Debüt, entwickelten Mondo Sangue einen vollständigen Plot, die Geschichte eines Forscher-Trios, das über Urwäldern abstürzt. "Die Musik hatte Chris schon vollständig im Kopf", sagt Yvy Pop. "Das ist bis heute so geblieben. Wenn wir etwas zusammenspinnen, ist alles schon da, er muss sich nur noch hinsetzen und es aufnehmen."
Dietmar Bosch, Inhaber des Stuttgarter Labels Allscore, spezialisiert auf Hörspiele und Filmmusik, veröffentlichte das Werk und sagte Mondo Sague weiterhin seine Unterstützung zu. Zusammengesponnen haben Yvy Pop und Christian Bluthardt seither so einiges. Ihren Vorsatz, innerhalb von zehn Jahren zehn Alben zu veröffentlichen, verfehlen sie dabei knapp: 2025 werden sie ihr 10. Jubiläum feiern – "Diamantik" ist ihr sechstes Album.
Alberto Rocca alias Bela B
Gleich mit dem zweiten Werk, "No Place for a Man", gelang Mondo Sangue ein Coup: Auf ihm singt Yvy Pop ein zuckersüßes Duett mit Alberto Rocca – hinter dem Pseudonym verbirgt sich Bela B, Schlagzeuger der Ärzte, bürgerlich Dirk Albert Felsenheimer. "Wir haben ihm unsere Kannibalen-Platte geschickt und angefragt, ob er Lust hätte auf einen Spaghetti-Western, der wüst ausgeht", erzählt Yvy Pop. Er hatte Lust.
"Sto Paese Non È Niente Per Te", das Duett, umspielt von Harmonika und klirrender Gitarre, klingt ein wenig wie eine jener Mörderballaden, die einst Nick Cave und Kylie Minogue sangen – nur liegen hier die Dinge anders. Es gibt keine Männer im Dorf, in das der Portugiese reitet aus dem Wüstenstaub heraus, und das hat seinen Grund: Die Frauen im Dorf huldigen einem grausamen Kult – zum Unglück des vermeintlich stärkeren Geschlechts.
Die Alben von Mondo Sangue sind mehrdimensionale Puzzles aus Versatzstücken der populären Kultur. Und immer wieder finden sich dort die Splitter der Gegenwart. "Konzeptionell", sagt Yvy Pop, "war es für uns immer wichtig, auch etwas Modernes einzubringen" – eine Verkehrung der Geschlechterrollen beispielsweise, die seit "No Place for a Man" ein fester Bestandteil des Mondo-Konzeptes ist: Männer sind hier niemals die Helden, die Überlebenden, manchmal aber die Opfer.
Yvy Pop und Christian Bluthardt wissen immer, was sie tun – und gehen doch ganz auf in der reinen Liebe zu ihren Sujets. Jedes Detail wird von ihnen bewusst gesetzt. Auf ihrem dritten Album VEGA-5 (2020) durchreisen sie den Weltraum, erreichen dessen Ende und hören dort die Stimme der kosmischen Urkraft Gaia – dem Album beigegeben ist ein echter Meteoritensplitter. Mit "Rosso come la notte" (2021) wandten Mondo Sangue sich dem Giallo zu, dem blutigen italienischen Mörderfilm, und ließen ihr Filmposter als Siebdruck auf Metzgerpapier drucken. Sie richteten eine Ausstellung in den Räumen des Deutschen Fleischermuseums Böblingen ein, füllten dort Räume mit Filmrequisiten, Mondlandschaften, Knochen und angsteinflößenden Nachtgeschöpfen. Selbstverständlich erscheinen alle Vinyl-Alben von Mondo Sangue in einer auf 666 Exemplare limitierten Auflage, handsigniert.
Und sie fanden Gleichgesinnte. Bela B gilt mittlerweile als Bandmitglied. Auf "Giallo come il giorno" wirkten auch Rocko Schamoni, Dirk von Lowtzow und Eric Pfeil mit. Mit Pfeil nahmen Mondo Sangue 2022 die Single "Radio Gelato" auf, mit Rocko Schamoni die Single "Schöne fremde Frau". Zum Weltfrauentag 2021 veröffentlichen sie eine Cover-Version des John-Lennon-Songs "Woman".
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