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Sechs letzte Jahre

Sechs letzte Jahre
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Maria Schrader erzählt in ausgefeilten Miniaturen von den letzten Jahren des Schriftstellers Stefan Zweig im Exil. Und der Kabarettist Josef Hader spielt ebenso zurückhaltend wie intensiv diesen kultivierten Mann, dem seine Welt abhandenkommt, meint unser Filmkritiker.

1936, im exklusiven Jockey Club in Rio de Janeiro. Ein festlich dekorierter Saal, eine riesige Tafel, an der Bedienstete penibel noch diesen Teller, dieses Glas oder jenes Löffelchen arrangieren. Die Türen gehen auf, die Gesellschaft strömt herein, Politiker, Diplomaten, Autoren, Künstler und Journalisten geben sich die Ehre, portugiesische, spanische, englische und deutsche Sätze sind zu hören. Wem dieser Empfang bereitet wird, der muss ganz oben sein, der muss es geschafft haben. Und Stefan Zweig ("Sternstunden der Menschheit") hat es tatsächlich geschafft, er ist weltberühmt und wird in Brasilien behandelt wie ein Staatsmann. Aber er ist eben auch ein Schriftsteller im Exil, ein Jude und Pazifist, der aus Österreich hinausgeekelt wurde, in Deutschland nicht mehr publizieren darf, einige Jahre in England lebt und später aus Angst, dort als deutschsprachiger Ausländer interniert zu werden, über die USA nach Südamerika reist.

Reist er wirklich? Nun ja, es sieht auf den ersten Blick so aus. Stefan Zweig kann sich eben großbürgerliche Fortbewegung leisten. Tatsächlich aber ist all dies eine lange und letztlich vergebliche Flucht. Hier, bei diesem Bankett, will er noch an ein friedliches Europa glauben und daran, dass "Pässe und Grenzen irgendwann der Vergangenheit angehören". Aber wer diesem freundlich Höflichkeitsfloskeln ("Avec plaisir") austauschenden Mann länger zusieht, der spürt in all dem Trubel manchmal eine große Abwesenheit. Als schauten seine dunkelbraunen Augen melancholisch zurück in eine Welt, deren letzte Reste gerade zerstört werden. Stefan Zweig hat ja schon lange in der Erinnerung an die alte k. u. k. Welt gelebt, aber immerhin noch am Ort seiner Erinnerungen. Nun ist ihm auch noch dieser Ort abhandengekommen.

Stefan Zweig wird in diesem Film gespielt von Josef Hader. Und nach diesem Satz will man erst mal eine Pause machen. Weil sich der Kopf füllt mit Auftritten von Hader als grandiosem Kabarettisten oder mit Bildern aus den Wolf-Haas-Verfilmungen, in denen er als lethargisch-heruntergekommener Privatdetektiv Brenner brilliert. Jetzt also Hader ganz ernsthaft als hochgebildeter und distinguierter Citoyen? Geht das? Ja, das geht! Wie sensibel dieser Schauspieler mit seiner Figur umgeht, wie er diese Rolle annimmt mit allem, was er kann, und sich dabei gleichzeitig zurücknimmt, das ist eine ganz besondere Leistung. Und sie wird noch bewundernswerter, weil die Regisseurin Maria Schrader in oft extrem langen Einstellungen erzählt, die nicht nur von ihr, sondern auch von den Darstellern ein Höchstmaß an Sorgfalt und Konzentration erfordern. Doch ob nun auf allen Vieren beim Spiel mit einem Hund, im Clubsessel sitzend und in weichem Ton parlierend oder auf einem Podium stehend und mit mürber Eleganz Reden haltend: Josef Hader ist in jeder Situation und in jeder Sekunde Stefan Zweig.

"Ich werde nicht gegen Deutschland sprechen", sagt Zweig 1936 beim P.E.N.-Kongress in Buenos Aires. Auch wenn andere ihn zum politischen Bekenntnis drängen, auch wenn der Kollege Emil Ludwig (Charly Hübner) eine flammende Rede gegen den Faschismus hält, auch wenn sein eigener Name bei der Auflistung der von den Nazis verbotenen Autoren dabei ist: Der Hass auf etwas sei für ihn keine Triebfeder, sagt Zweig und weigert sich, seinen quasi über den Parteien angesiedelten Standpunkt als Humanist und Pazifist aufzugeben. Die Regisseurin Maria Schrader, die zusammen mit Jan Schomburg auch das Drehbuch geschrieben hat, bewertet das nicht, sie zeigt es nur. Sie zeigt auch, wie da ein Schriftsteller zwar keine dezidierten Worte des Engagements findet, wie aber sein Leben selbst zu einer Art Bekenntnis gegen Faschismus und Krieg wird.

Schrader zeigt in ihren sechs chronologisch angeordneten, manchmal viel Zeit überspringenden Kapiteln – jedes für sich eine perfekte Miniatur – auch den Schriftsteller im Jahr 1941 in einer Wohnung im verschneiten New York. Seine Exfrau Fritzi (Barabara Sukowa), immer noch freundschaftlich mit ihm verbunden, hat mit seiner Hilfe die Flucht geschafft und ihm viele Bittbriefe mitgebracht. Er hat schon viel getan, mit Geld und mit Beziehungen, aber nun wird es ihm zu viel: "Ich kann nicht mehr." Also erzählt sie von den Pyrenäen, die sie zu Fuß überquert hat, und von den vielen Zurückgebliebenen, bei denen es weiter um Leben und Tod geht. Er sei letztlich privilegiert, deutet sie an, deshalb müsse er auch weiter helfen.

Es stimmt, Zweig ist im Vergleich mit anderen Geflüchteten privilegiert. Aber er findet keine Heimat mehr, auch nicht in Brasilien, das er auf etwas naive Weise liebt und dafür preist, dass dort keine Rassen- und Klassenschranken errichtet würden. Bei einer Recherche für ein Brasilienbuch, das von der Linken im Land kritisiert werden wird, streift er mit seiner zweiten Frau Lotte (Aenne Schwarz) im Jahr 1941 durch ein Zuckerrohrfeld in Bahia. Eigentlich müssten die beiden schon unterwegs zum Flughafen sein, aber der nervöse Provinzbürgermeister hat einen Empfang vorbereitet, hält eine pathetische Rede und lässt dann die uniformierte Blasmusik vorfahren. Ein bisschen Komödie liegt in der Luft, vor allem, als die schwarze Combo sehr schräg den Donauwalzer spielt. Ja, es ist zum Lachen – und wird für Stefan Zweig zum Heulen. Lange, lange sieht man zu, wie die falschen Töne Erinnerungsbilder wachrufen, wie sich ein Auge füllt, wie eine Träne ... Schnitt! Genau da, wo es sentimental werden könnte, beendet die Regisseurin das Kapitel ...

... und springt in das nächste hinein. Die Zuschauer werden bei diesen teils in Echtzeit inszenierten Miniaturen zunächst bewusst überfordert. Maria Schrader unterschlägt einordnende Vorgeschichten, manchmal enthüllen sich die Verhältnisse zwischen den Personen erst nach und nach. Und manches kann und will die Regisseurin auch nicht erklären und lässt deshalb Leerstellen. Von den üblichen TV-Biografien und -Dramaturgien ist das weit entfernt. Dafür zeigt ihr Film ein großes Gespür für Kleinigkeiten, für scheinbare Banalitäten, die jedoch eine Stimmung mit ausmachen, die das Geschehen der Vergangenheit entreißen und in die Gegenwart holen: das polyglotte Stimmgemurmel bei einer Konferenz etwa; die Art, eine Zigarre zu halten; die Kleidung, die in der Schwüle am Körper klebt.

"Ein tropischer Semmering!", sagt Stefan Zweig 1941 in Petropolis, als er vom Balkon seines Freundes und Exilkollegen Ernst Feder (Matthias Brandt) ins üppige Grün schaut. Doch in diesem Vergleich steckt schon das Problem: Er kann von der alten Heimat nicht lassen. Und nun fragt er, die bösen neuen Zeiten meinend: "Wie soll man das aufhalten?" Stefan Zweig ist kein Kämpfer, der an den Sieg der Demokratie oder gar an den des Sozialismus glaubt. Ganz sanft und ohne Auflehnung hat er resigniert. Er kann nur zurückschauen und hat gerade sein Buch mit dem Titel "Die Welt von gestern" beendet. Darin heißt es: "So gehöre ich nirgends mehr hin, überall Fremder und bestenfalls Gast; auch die eigentliche Heimat, die mein Herz sich erwählt, Europa, ist mir verloren, seit es sich zum zweitenmal selbstmörderisch zerfleischt im Bruderkriege." Diesen Satz zitiert Maria Schrader nicht, wohl aber den letzten aus dem 1942 geschriebenen Abschiedsbrief von Stefan Zweig. Der Autor, dem in dieser Welt nicht zu helfen war, ist in der letzten Einstellung diskret im Hintergrund zu sehen, tot auf dem Bett liegend, an ihn geschmiegt seine ebenfalls aus dem Leben geschiedene Frau Lotte: "Ich grüße alle meine Freunde!", so heißt es da, "mögen Sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehen ihnen voraus."

Fast unnötig, die Parallelen zu unserer Gegenwart zu erwähnen, zu den Millionen Menschen auf der Flucht vor mörderischen Regimen. Oder doch nicht unnötig? Kann es sein, dass ein Film wie dieser einfach als Historie rezipiert wird, als eine Geschichte aus dunkler deutscher, aber lange vergangener Zeit? Wer "Vor der Morgenröte" sieht, müsste eigentlich ein in die Gegenwart hineinreichendes Beben spüren. Seltsam aber ist, dass das Wort "Exil" heute meist nur für diejenigen verwendet wird, die vor den Nazis geflüchtet sind. So als wollte man dieses Wort – und vor allem dessen Inhalt – den Geflüchteten unserer Gegenwart vorenthalten.

 

Info:

Maria Schraders "Vor der Morgenröte" kommt am Donnerstag, den 2. Juni, in die deutschen Kinos. In Stuttgart zeigt das Atelier am Bollwerk den Film am Donnerstag um 15:30 und um 20:40 Uhr, sowie Freitag bis Montag um 15:30 und 20 Uhr. Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche external-link-new-window>finden Sie hier.

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