Ingo K. stammt aus Plauen, einer sächsischen Kleinstadt in der ehemaligen DDR. 1987 machte seine Mutter eine Reise in den Westen, um ihre Verwandtschaft in Bottrop (Nordrhein-Westfalen) zu besuchen. Aus ihrer Reise wurde ihre Ausreise. Er beschloss, einen Ausreiseantrag zu stellen. 22 Jahre war Ingo K. alt, als sein Antrag im Juni 1989 bewilligt wurde. Daraufhin verließ er die DDR und folgte seiner Mutter nach Bottrop. Doch rasch zog es ihn in den Süden, da seine damalige Partnerin in Braunsbach im Landkreis Schwäbisch Hall wohnte.
Ingo K. – der bereits mit acht Jahren begann, erst Judo, dann Karate zu trainieren – eröffnete ein Kampfsportstudio in Öhringen im Hohenlohekreis. Bereits nach zwei Jahren ging das Studio insolvent. An verschiedenen Orten versuchte er im Laufe der Zeit, ein erfolgreiches Unternehmen zu führen. Ohne Erfolg. Ingo K. scheiterte nicht nur im Beruflichen, sondern auch im Privaten. Er ist mehrfach geschieden und wurde mehrfach verurteilt.
Ingo K. nahm gemeinsam mit Robert V. aus Schwäbisch Hall an der Mahnwache in Bad Mergentheim teil. Die beiden sind langjährige Weggefährten. V. betreibt ein "Mahnmal gegen das Vergessen" mit einer "Leine des Grauens". Das Mahnmal, das an die Opfer der deutschen Asyl- und Migrationspolitik erinnern will, zeigt schwarze Hände mit Blutspuren. Die Botschaft, die V. mit dem Mahnmal vermittelt, ist klar: Schwarze Menschen seien kriminell, seien Mörder, Räuber, Vergewaltiger. (...)
An der "Leine des Grauens" hängen Hunderte Zettel. Sie sollen dokumentieren, was einst ein AfD-Politiker mit der Hetzparole "Masseneinwanderung heißt auch Messereinwanderung" beschrieb: dass Asylsuchende einen Hang zu brutaler Gewalt hätten. Sowohl im Netz als auch auf der Straße sucht V. die Öffentlichkeit. So präsentierte er sein Mahnmal samt Leine auf dem Deutschordenplatz. Er nutzte die Bühne, um eine Rede zu halten und die Stimmung anzuheizen.
So rechnete er in seiner Rede vor, wie viele und welche Straftaten die eingewanderten Menschen in der Bundesrepublik begehen und wie hoch der Anteil jener Menschen in deutschen Gefängnissen ist. In seiner Rede behauptete V., die politisch Verantwortlichen würden die Verbrechen "unter den Tisch kehren". Aufrührerisch verkündete er am Ende: "Wir sind in einer historischen Zeit. Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Für die Freiheit oder für die Knechtschaft." Noch während der Versammlung verließ die Hälfte aller Teilnehmer:innen den abgesperrten Platz.
Im Telegram-Chat von "Querdenken 793 – Bad Mergentheim", in dem die Mahnwachen organisiert wurden, entbrannte harsche Kritik. "Guten Morgen, ich habe gestern die Demo verlassen", schrieb eine Frau. "Ich wohne keiner Demo bei, auf der gegen Immigranten gehetzt wird!!!" Sie erntete Widerspruch, aber bekräftigte, die Rede habe "auf einer Demo für Frieden und Freiheit nichts zu suchen". (...)
Vor Gericht behauptet Ingo K. später, er selbst habe bloß eine Viertelstunde an der Versammlung teilgenommen, um "für die Mannschaft" zu trommeln. Wiederholt erklärt er, die Mahnwache vom 13. Juni 2020 sei seine einzige Querdenken-Mahnwache in Bad Mergentheim gewesen. Doch das ist gelogen. Beispielsweise besuchte er mit V. auch die "2. Mahnwache für das Grundgesetz". Die Versammlung fand am 16. Mai 2020 vor dem Alten Rathaus statt. Im grauen Polohemd und in knielanger Wanderhose stand V. auf einem Nachtschränkchen und hielt eine kurze Rede. (...)
Als dieser seine Rede beendete, trat Ingo K. in einer grellen Ordnerweste an das Schränkchen, um das Mikrofon entgegenzunehmen. Auch er, mit Sonnenbrille in den Haaren und seiner Trommel in der Hand, sprach im Laufe der Versammlung. Die beiden hatten Routine: Schon damals, als die Querdenken-Mahnwachen stattfanden, konnten sie auf unzählige Demonstrationen zurückblicken. Beispielsweise hatten sie an rechtsextremen Versammlungen in Öhringen im Hohenlohekreis und in Kandel (Rheinland-Pfalz) teilgenommen. Die Demonstrationen hatten ein Thema: die Einwanderung. Das Thema brachte Besorgte, Empörte, Verängstigte mit AfD, Neonazis und "Reichsbürgern" zusammen.
Ab 2015 protestierte "Hohenlohe wacht auf", eine Art regionaler PEGIDA-Ableger, in Öhringen. Mit seinen Reden prägte V. die Versammlungen. Regelmäßig trat er auf, um gegen die angebliche "Islamisierung" zu wettern. Auf Worte folgten Taten im Hohenlohekreis: Am 17. November 2016 zündeten Unbekannte eine Asylunterkunft in Pfedelbach an. Nur zwei Monate später, am 19. Januar 2017, brannte eine Unterkunft in Neuenstein. Schnell wurden die beiden Täter im Falle der zweiten Brandstiftung gefasst. Die Männer waren bei "Hohenlohe wacht auf" aktiv. Als "Hohenlohe wacht auf" am 8. September 2018 mit der "Leine des Grauens" durch die Öhringer Innenstadt zog, stand Ingo K. mit seinem Hund am Rande des Protestzugs – denn das Führen von Hunden war untersagt.
Ab 2018 protestierte "Kandel ist überall", eine Initiative der AfD-Politikerin Christina Baum aus dem Main-Tauber-Kreis, in Kandel. In ihrem "Manifest" forderte "Kandel ist überall" "den sofortigen Stopp jedweder Zuwanderung nach Deutschland". (...) An der Demonstration nahmen mehr als 4.000 Menschen teil. Ein Foto zeigt Ingo K. mit einer türkisfarbenen Gesichtsbemalung und seiner Trommel. (...)
In der Corona-Pandemie blickte er mit Ernüchterung auf die Demonstrationen zurück. Offenbar schrieb er im Telegram-Chat von "Querdenken 793 – Bad Mergentheim": "Ich geh jetzt seit fünf Jahren auf Demo und es war immer das gleiche Ergebnis … Infiltration … Zersetzung … Spaltung … Ende". (...) Mit den Protesten gegen die Asyl- und Migrationspolitik setzte die Radikalisierung ein, mit den Protesten gegen die Corona-Politik spitzte sie sich zu. Ingo K. erlebte mit dem Ausbruch der Pandemie und den Querdenken-Mahnwachen in Bad Mergentheim einen erheblichen Radikalisierungsschub.
Die Radikalisierung fand Ausdruck in seinem Alltag: Fast täglich ging er mit seiner Nachbarin und den Hunden in Rüsselhausen spazieren. Einmal behauptete er, in FFP2-Masken seien Würmer. Auf die Frage der Nachbarin, warum Würmer in den Masken sein sollten, zuckte er mit den Schultern. Dann entgegnete er, die Würmer würden in die Atemorgane eindringen und die Menschen krankmachen. Ingo K. lehnte das Tragen einer FFP2-Maske ab. "Das hält man nicht aus", klagte er und verwies auf seine Asthma-Erkrankung. Durch seine Weigerung, eine Maske zu tragen, verlor er einen Arbeitsplatz in einer Firma. (...)
Im Prozess sagt die Nachbarin, Ingo K. sei ein "sehr ruhiger Mensch". Ihr Ehemann bestätigt, er sei "aufgeschlossen" und "freundlich". Auch der Vermieter pflichtet bei, er sei "freundlich" und "hilfsbereit". Aber: Für Ingo K. seien Chemtrails ein Thema gewesen. Chemtrails – das Wort ist eine Zusammensetzung aus Chemicals (Chemikalien) und Contrails (Kondensstreifen). (...) Als er im Sitzungssaal mit der Verschwörungserzählung konfrontiert wird, bekräftigt er seine Haltung. Ein Bekannter berichtet ebenfalls, Ingo K. habe über Chemtrails gesprochen. Das Gift werde in den Treibstoff gemischt, um der Menschheit zu schaden.
Neben Chemtrails habe er auch über Bunker in Ostdeutschland erzählt. In geheimen Bunkern würden "Millionen arabischer Flüchtlinge" versteckt, um sie "auf einen Schlag" auf die Deutschen "loszulassen". Daher wolle er mit Freund:innen in den Osten fahren, um nach Bunkern zu suchen. Das habe er durchaus ernst gemeint. (...) Ingo K. behauptet jedoch, all das sei "Sarkasmus" gewesen. (...) Eine ehemalige Arbeitskollegin schildert Gegenteiliges: Vor Gericht sagt sie, er sei "extrem überzeugt" gewesen. So habe er gefragt, ob sie schon einmal im McDonalds gegessen habe. Als sie die Frage bejahte, habe er behauptet, "die Juden" würden Kinder schlachten und das Fleisch in McDonalds-Filialen verkaufen. Diese Erzählung fußt auf der Ritualmordlegende. (...) Eindrücklich beschrieb die ehemalige Arbeitskollegin gegenüber "Spiegel TV", wie schockiert Ingo K. war, als er erfuhr, dass sie mit ihren Kindern im McDonalds gegessen hatte.
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