"Schwer fassbar" sei das, was am 20. April 2022 im zu Boxberg gehörenden 400-Seelen-Dorf Bobstadt im Nordosten Baden-Württembergs geschah. Die Taten "lassen einen noch immer erschaudern", wohin die Radikalisierung und Staatsablehnung eines Menschen führen könne. Es sind aufwühlende, nachdenkliche Worte, die Stefan Maier, der Vorsitzende Richter des 7. Strafsenats des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart, am 15. November im Urteil gegen den Angeklagten Ingo K. spricht.
Der 55-jährige Ingo K. steht seit April dieses Jahres vor dem OLG. Der Vorwurf: versuchter Mord. Bei einem SEK-Einsatz soll er versucht haben, mehrere Polizist:innen zu erschießen. Nach 29 Hauptverhandlungstagen mit über 80 Sachverständigen und Zeug:innen ist der Strafsenat überzeugt: Als das SEK eine Pistole der Marke Glock von Ingo K. einziehen wollte und ein Beamter den Rollladen seiner Terrassentür zerschnitt, um die Erdgeschosswohnung zu betreten, schoss der Angeklagte durch den Rollladen. "Es grenzt an ein Wunder", dass nur zwei SEK-Beamte verletzt wurden, merkt der Vorsitzende Richter Maier in seinem Urteil an. Schließlich habe Ingo K. einen "Kugelhagel mit mehr als 40 Schüssen" abgegeben.
Der "maßgebliche Einschnitt" kam 2021
Jener "Kugelhagel" war laut Maier das Ende einer "unglaublichen Radikalisierung". Dabei sei der Radikalisierungsprozess "nicht von Null auf 100" vonstattengegangen: 2016 sei mit der Fluchtbewegung ein erster, ab 2020 mit der Corona-Pandemie ein zweiter Einschnitt für den Angeklagten erfolgt. Damals hatte Ingo K. an Versammlungen gegen die Asyl- und Corona-Politik teilgenommen. Chemtrails, Reptiloiden sowie Juden, die Kinder schlachten und deren Blut trinken: Mit dem Glauben an Verschwörungsmythen habe die Radikalisierung ihren Lauf genommen.
Ende 2021, als der Angeklagte nach Bobstadt im Main-Tauber-Kreis zog, habe der "maßgebliche Einschnitt" stattgefunden. Fortan lebte er auf dem Bauernhof des "Reichsbürgers" Heiko A. und dessen Familie. Ingo K. bezog mit seinem Sohn das Erdgeschoss, Familie A. wohnte im Obergeschoss. Der Angeklagte und die Familie A. seien überzeugt gewesen, der Bauernhof liege außerhalb der bundesdeutschen Rechtsordnung. Nun unter Gleichgesinnten habe der Radikalisierungsprozess einen "entscheidenden Schub" erhalten. Ingo K. habe den "Kontakt zur Außenwelt" abgebrochen.
Wo hat Ingo K. die Waffen gekauft?
Ab 2016, als seine Radikalisierung begann, beschaffte der Angeklagte – neben seiner Pistole – eine Vielzahl an Waffen. So hatte er ein vollautomatisches Sturmgewehr der Marke Zastava M70, wie es von der Armee des ehemaligen Jugoslawiens verwendet wurde, im Frühjahr 2016 "entmilitarisiert" (sprich: unbrauchbar gemacht) gekauft und spätestens 2017 wieder militarisiert. Die Frage, wo Ingo K. das Gewehr, die spätere Tatwaffe, gekauft hatte, konnte im Prozess beantwortet werden. Aber: Woher er die übrigen Waffen hat, bleibt ungeklärt. Vor Gericht sagte er bloß: "Schwarzmarkt". In seiner Erdgeschosswohnung bewahrte er das Arsenal in einer Waffenkammer auf. Der Vorsitzende Richter Maier erklärt in seinem Urteil, die Waffen seien im Falle staatlicher Maßnahmen "jederzeit zugriffsbereit" und mehrheitlich "einsatzbereit" gewesen.
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