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Eritreer kämpft um Reisepass

Die Pflicht, die Flucht zu bereuen

Eritreer kämpft um Reisepass: Die Pflicht, die Flucht zu bereuen
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Gide Goitom ist als Kind und alleine aus Eritrea geflohen. Nach über sieben Jahren Aufenthalt in Deutschland hat er endlich einen Reisepass für Ausländer erhalten und kann seine Eltern wiedersehen. Obwohl er längst sein eigenes Geld verdient, war der Kampf mit der Bürokratie eine Durchhalteprobe.

Seit ein paar Tagen hat der 25-jährige Gide Goitom einen Reiseausweis und kann nach zwölf Jahren – zumindest rein rechtlich – wieder seine Eltern besuchen. Bis dahin war es ein langer Weg. Der sogenannte "Reiseausweis für Ausländer" wurde ihm mit dem Hinweis verweigert, er könne einen eritreischen Pass beantragen. Um in der eritreischen Behörde einen Pass zu bekommen, hätte Goitom aber eine sogenannte "Reueerklärung" abgeben müssen. Die setzt ein Schuldeingeständnis voraus, die Flucht als eine Art Straftat gegenüber dem eritreischen Staat anzuerkennen – dazu war Goitom nicht bereit.

Er hat kein Vertrauen in den eritreischen Staat, in dem Menschenrechtsverletzungen und willkürliche Strafverfolgung Alltag sind. Wer auf der eritreischen Botschaft von den eigenen Erlebnissen erzähle und dabei nicht gut über den Staat spreche, sagt Goitom, habe keine Chance auf Papiere.

Dass die deutschen Behörden ihm den Reiseausweis verweigerten, kann er nicht verstehen. Früher hätten die Beamten immer zu ihm gesagt, er habe Chancen in Deutschland, wenn er in die Schule gehe, eine eigene Wohnung beziehe und Arbeit habe. "Ich habe immer 'Ja' gesagt. Ich bin seit über drei Jahren in meiner eigenen Wohnung, habe Arbeit und verdiene mein Geld. Und am Ende sagen sie 'Nein'. Das macht keinen Sinn."

Goitom hat den Status von subsidiärem Schutz in Deutschland. Das bedeutet, dass er hierzulande zwar nicht als Flüchtling oder Asylberechtigter gilt, da er aus keinem Kriegsgebiet kommt, aber dennoch anerkannt wird, dass ihm in Eritrea ein "ernsthafter Schaden droht".

Nach lebensgefährlicher Flucht kam Goitom als Minderjähriger mit nichts in den Taschen in Deutschland an. Nun lebt er im ruhigen Gäufelden, einer 9.000-Seelen-Gemeinde im Landkreis Böblingen, besucht das Fitness-Studio und pflegt seine sozialen Kontakte an den Wochenenden. Er arbeitet als Landschaftsgärtner und ist finanziell unabhängig. All die Menschen, die ihn begleitet haben und begleiten, "sind für mich eine Familie, ich kann es nicht anders sagen", sagt er. Er hat viele Freund:innen in Deutschland gefunden, einer von ihnen ist Marc Herzer-Kisters.

Schwierigkeiten mit der Behörde

Als Herzer-Kisters merkte, "wie schwierig es ist und wie genervt Gide von der Ausländerbehörde ist", bekam er Interesse, selbst herauszufinden, "warum es mit seinen Anträgen nicht weitergeht". Herzer-Kisters, der ausgebildeter Jugend- und Heimerzieher ist, stieß auf eine gestresste Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde, die aufgrund von Personalmangel zwei Stellen betreuen musste. "Teilweise waren es wohl Kommunikationsprobleme" zwischen seinem Freund Goitom und der Behörde, glaubt Herzer-Kisters. Wenn Goitom etwas nicht gleich verstanden hat, habe die Sachbearbeiterin auf Nachfragen schnell genervt reagiert.

Einmal habe Goitom auf Anfrage der Behörde mit hohem Aufwand eine Kopie von seinem Schulzeugnis in Eritrea besorgt, auf dem sein Name und Geburtsdatum zu lesen sind, und auf Deutsch übersetzt, um zu beweisen, dass er aus Eritrea kommt. Anschließend sei die Antwort der Behörde allerdings gewesen, dass die Zeugniskopie doch nicht reiche. "Das frustriert", sagt Goitom.

Entscheidend dafür, dass Goitom nun doch einen Reiseausweis bekommen hat, war die Initiative eines knapp 40-jährigen Eritreers, der sich bis vor das Bundesverwaltungsgericht geklagt hat. Dieses urteilte am 11. Oktober 2022, subsidiär Schutzberechtigten dürfe die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer nicht mit der Begründung verweigert werden, sie könnten einen Pass ihres Herkunftsstaates erlangen, "wenn der Herkunftsstaat die Ausstellung eines Passes an die Unterzeichnung einer 'Reueerklärung' knüpft, die mit der Selbstbezichtigung einer Straftat verbunden ist, und der Ausländer plausibel darlegt, dass er die Erklärung nicht abgeben will".

In der Reueerklärung, wie sie die eritreische Botschaft verlangt, müsse der Unterzeichner bedauern, "seiner nationalen Pflicht nicht nachgekommen zu sein, und erklären, eine eventuell dafür verhängte Strafe zu akzeptieren". Eine Begründung des eritreischen Klägers im Prozessverlauf war, dass es nicht absehbar sei, welche Bestrafung er sich im Falle einer Abschiebung nach Eritrea durch das Unterschreiben der Reueerklärung aussetze. Außerdem bereue er seine Flucht aus Eritrea und die damit verbundenen Gesetzesbrüche – nach eritreischem Recht ist die illegale Ausreise verboten – nicht. Somit würde dem Betroffenen ein Schuldeingeständnis abverlangt, das auf einer gesetzlichen Drucksituation beruhe, heißt es im Gerichtsurteil.

Bei Goitom sitzt das Misstrauen gegen den eritreischen Staat tief – bereits mit zwölf Jahren floh er alleine nach Äthiopien. Keine Freiheit, keine Schule, keine Arbeit und immer wieder Krieg, fasst Goitom die Verhältnisse dort zusammen: "Du lebst, aber du kannst keine Zukunft aufbauen." Über den Sudan und die Sahara flüchtete er im Alter von 16 Jahren weiter durch die Sahara nach Libyen und von dort in einem Schlauchboot über das Mittelmeer. Die Möglichkeit zur Flucht hat er einem Mann zu verdanken, den er im Sudan kennengelernt hat, sagt Goitom. Dieser habe Kontakte in Europa gehabt, während der Flucht auf ihn aufgepasst und ihm auch das Geld für die Schleuser gegeben. Im Verlauf der Flucht haben sie sich allerdings aus den Augen verloren.

Bei den Schleusern in Libyen war die "Behandlung sehr schrecklich", die Flüchtenden durften nicht reden und es gab weder Essen noch Trinken, sagt Goitom. 300 Menschen drängten sich um zwei Uhr nachts auf das Boot, das eigentlich nur für 30 Passagiere ausgelegt war. Viele seien auf der Fahrt gestorben, einige konnten auf dem überfüllten Boot nicht atmen. Wasser drang in das Boot ein, die Flüchtenden schöpften es mit dem Eimer notdürftig heraus. Nach elf Stunden verließ das Boot das Gebiet des Küstenstaates Libyen, später kam ein "ganz riesiges Schiff", vermutlich von einer Rettungsorganisation, und brachte die Überlebenden nach Italien. Im dortigen Aufnahmezentrum ist Goitom nach vier Tagen nachts über den Zaun und in einen Zug Richtung Norden gestiegen: "Eigentlich wollte ich nach England", sagt er. Ohne Fahrkarte, Geld und Sprachkenntnisse wurde der damals 16-jährige Goitom in Kassel von der Polizei aufgegriffen und für zwei Wochen in ein Flüchtlingsheim gebracht. Von dort ging es für drei Jahre in eine Wohngruppe nach Herrenberg, bis Goitom seine eigene Wohnung in Gäufelden bezog, wo er heute lebt.

Kein Einzelfall

Wie Goitom ging es vielen Eritreer:innen. In den letzten zwanzig Jahren sind bei einer Bevölkerung von circa 3,6 Millionen Menschen über eine halbe Million aus dem Land geflohen, "darunter Tausende Kinder und Jugendliche", schreibt der Verein Proasyl: "Das Land ist geprägt von einem oft lebenslangen Militärdienst, völliger Willkür, Verschwindenlassen und Folter."

"Ich habe Angst vor dieser Regierung" sagt auch Tesfai Tecle vom Radio Eritrea, das samstags von 11 bis 12 Uhr im Freien Radio Stuttgart läuft. Ab dem Jahr 2000 seien viele Eritreer:innen wegen des Krieges mit Äthiopien geflüchtet, führt Tecle aus. Journalist:innen, Student:innen und religiöse Führer werden in Eritrea willkürlich inhaftiert: "Niemand weiß, wo diese Leute sind", sagt Tecle. Selbst im Falle einer Familienzusammenführung lasse der eritreische Staat die Menschen nicht direkt aus der Heimat ausreisen.

Obwohl sich an den Bedingungen in Eritrea in den vergangenen Jahren keine wesentlichen positiven Änderungen feststellen lassen, schiebt der deutsche Staat immer mehr Eritreer:innen ab. 2017 bekamen noch 50 Prozent der ankommenden Eritreer:innen einen Flüchtlingsschutz, seit 2019 sind es nur noch circa fünf Prozent, heißt es auf der Webseite von Proasyl: "Die meisten bekommen inzwischen nur noch subsidiären Schutz oder ein Abschiebeverbot. Und über ein Viertel wird komplett abgelehnt." Neben der Reueerklärung zwang der deutsche Staat die Asyl suchenden Eritreer:innen durch Kooperationsdruck mit der eritreischen Botschaft auch zu einer Diaspora-Steuer von zwei Prozent ihres Einkommens und stützte somit indirekt die dortige Diktatur, ist auf der Proasyl-Webseite zu lesen.

Noch viel zu erkämpfen

Obwohl das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, in dem die Reueerklärung nicht als zumutbar eingestuft wird, bereits im Oktober vergangenen Jahres verkündet wurde, brauchte es noch über ein halbes Jahr, bis Goitom seinen Reiseausweis in der Hand halten konnte. Bis das Regierungspräsidium und das Justizministerium alles Notwendige ausgetauscht hatten und die Gesetzesänderung verschriftlicht war, dauere es eine ganze Zeit, bekam Herzer-Kisters als Antwort auf die Anfragen für seinen Freund.

Damit Goitom seine Familie in Äthiopien besuchen kann – ein Besuch in Eritrea wäre zu gefährlich –, muss er eine Unterkunft für sie und seinen Flug bezahlen. Obwohl er finanziell auf eigenen Beinen steht, sind dies immense Ausgaben für ihn. Daher hat Herzer-Kisters eine Spendenseite eingerichtet, damit sein Freund nach all den Strapazen endlich seine Eltern wiedersehen kann.

Nächstes Ziel sei eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung oder sogar eine deutsche Staatsbürgerschaft, sagt Herzer-Kisters. Schließlich habe die Ampel-Regierung angekündigt, die kurzfristigen Ketten-Duldungen beenden und eine schnellere Einbürgerung ermöglichen zu wollen. "Ja, aber das ist ja noch nicht beschlossen", haben die Sachbearbeiter:innen Herzer-Kisters bisher immer wieder auf seine Anfragen geantwortet.


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1 Kommentar verfügbar

  • Michel
    am 17.05.2023
    Antworten
    danke an Gide Goitom, daß er uns an seinem Schicksal teilhaben läßt und das Beste für seine Zukunft und danke an Marc Herzer-Kisters, daß er aufpaßt, daß deutschen Behörden der Amtsgaul nicht durchgeht, sie ihn fürsorglich im Zaum halten und Gide bald einbürgern. Eine Spende ist unterwegs. Wünsche…
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